© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Warten auf die nächste Welle
Neue Masseneinwanderung: Migranten suchen neue Wege nach Europa. Die geteilte Insel Zypern bietet ideale Einreisebedingungen – Teil 2 einer JF-Reportage
Hinrich Rohbohm

Sie haben nur Rucksäcke, Plastiktüten oder Sporttaschen dabei. Einzig die etwas dickeren Jacken, die sie tragen, lassen die Migranten auf dem Flughafen von Sabiha Gökçen in Istanbul ein wenig auffallen.

Ihr Ziel: Der Flughafen von Ercan im türkisch besetzten Nordzypern, keine zwanzig Autominuten von der geteilten Haupstadt Nikosia entfernt. Die Republik Nordzypern wird von keinem Land auf der Welt als Staat anerkannt. Außer der Türkei. Was wiederum der Grund dafür ist, daß nur von hier Direktflüge nach Nordzypern möglich sind.

Und da kommen die Migranten ins Spiel. Vor allem Schwarzafrikaner nutzen diesen Weg als Alternativroute zum Balkan. Aber auch Syrer, Afghanen, Pakistanis, Ägypter und Tunesier sind darunter. Der Reiz dieser Route: Die Einreise ist ohne Visum möglich. Und ist man erst einmal in Nordzypern, muß nur noch das Niemandsland der 1974 nach dem Zypernkonflikt von den Vereinten Nationen errichteten Demarkationslinie überwunden werden, um in die Republik Zypern und damit in die Europäische Union zu gelangen.

In der Wartehalle vor dem Ercan-Gate sitzt auch eine Gruppe Männer, deren Pässe, die sie bereits für die Boarding-Kontrolle hervorgekramt haben, sie als Pakistanis zu erkennen geben. Immer wieder stehen sie auf, laufen unruhig vor dem Flugsteig-Schalter hin und her. Auch ein Schwarzer steht hier bereits seit langem, obwohl das Boarding noch gar nicht begonnen hat. Auch er hat seinen Paß hervorgeholt, blickt sich immer wieder mißtrauisch um, realisiert, daß er beobachtet wird und verbirgt sein Ausweisdokument schnell unter dem Arm.

Gleich von mehreren türkischen Städten aus existieren Direktflüge nach Ercan. Selbst vom nahe der syrischen Grenze befindlichen Gaziantep aus, wo sich zahlreiche Flüchtlinge aufhalten, denen aufgrund der zunehmend angespannteren wirtschaftlichen Situation nun die Abschiebung nach Nordsyrien droht. Neben den Istanbuler Flughäfen starten Maschinen von Ankara, Antalya, Izmir oder Diyarbakir nach Ercan.

Von Istanbul aus dauert der Flug gerade einmal 90 Minuten. Der Ausstieg erfolgt direkt auf dem Rollfeld, keine Gangways. Neben dem Flugzeug der Billig-Airline Pegasus parkt eine Maschine von Turkish Airlines, die vom Istanbuler Hauptflughafen gestartet ist. Diese Route scheint noch stärker genutzt zu werden als der ohnehin schon stark mit Migranten besetzte Pegasus-Flug. Fast ausschließlich Schwarze steigen aus dem Flieger, begeben sich vom Rollfeld in das Flughafengebäude.

Dort angekommen zeigt allein schon der Blick durch die Reihen an der Paßkontrolle, was sich derzeit in Zypern abspielt. Eine Reihe ist für EU-Bürger. Nur wenige Passagiere finden sich hier ein, die Abfertigung gestaltet sich kurzweilig. Anders sieht es in den übrigen Reihen aus. Lange Schlangen von Schwarzafrikanern haben sich gebildet, die Kontrollen ziehen sich hin. Links neben den Kontrollkabinen befindet sich eine kleine Polizeistation. Auch hier hat sich eine kleine Schlange mit Schwarzen gebildet. Passagiere, deren Ausweisdokumente bei den Kontrolleuren offenbar Zweifel haben aufkommen lassen. Doch die meisten können nach längerem Kontrollprozedere passieren.

Draußen vor der Ankunftshalle wartet ein Menschenpulk aus weiteren Schwarzen. Sie pressen ihre Mohrenköpfe gegen die Glasscheibe des Gebäudes, halten Ausschau nach den Ankommenden. Andere Menschen aus dem Afrika südlich der Sahara sind mit Autos vorgefahren, wieder andere winken Taxis heran, als die Angekommenen das Gebäude verlassen.

„Migranten versuchen, nachts die Demarkationslinie zu passieren“

Als sich eine der zahlreichen kleinen Gruppen in eines der Taxis zwängt, folgt die JF in einem weiteren Taxi. Wenig überraschend geht die Fahrt Richtung Nikosia. Am Stadtrand ist die Szenerie ebenfalls durch zahlreiche Gruppen von Schwarzen geprägt, die am Straßenrand entlanglaufen. Auch an den Bushaltestellen auf dem Weg Richtung Innenstadt stehen fast ausschließlich Schwarze.

„Sie lieben unser Land“, meint der Taxifahrer darauf angesprochen und lächelt. Ärger würde es mit ihnen kaum geben. Die Demarkationslinie hingegen könnten die Migranten auf legalem Wege nicht passieren. Auch für ihn als Sohn türkischer Inselbewohner sei das nicht ohne weiteres möglich. Nach dem Zypernkonflikt ist es die Aufgabe der UN-Truppen, die griechische und die türkische Bevölkerung voneinander zu trennen. Auf diese Weise wurde der damalige Konflikt eingefroren.

Doch genau da beginnt das Problem. Die UN-Blauhelme sind dazu da, die beiden Bevölkerungsgruppen auf Distanz zu halten. Nicht aber dazu, illegale Migranten abzuschrecken oder zu kontrollieren. Was das zur Folge hat, wird die JF später erfahren.

Obwohl die Zypernkrise nun fast 50 Jahre her ist, sind die Spuren der einstigen Auseinandersetzungen noch immer deutlich zu sehen. Die Gebäude aus dieser Zeit stehen noch immer an der Demarkationsline. Sie sind verlassen. Die meisten Scheiben sind zerbrochen. Auf den Dächern befinden sich alte Reifenstapel, die einst als Deckung für Schützen gedient haben. Neben oder hinter den Gebäuden folgen Mauern und Stacheldraht. Nur das Militär hat dort Zugang, Fotos sind strengstens untersagt.

Das Taxi mit den schwarzen Passagieren hält wie vermutet in der Nähe der Demarkationslinie. Die Gruppe steigt aus, macht sich auf in Richtung Fußgängerzone, die sich unmittelbar vor dem Checkpunkt Richtung EU-Zypern befindet. Rein rechtlich gehört auch Nordzypern zur Republik Zypern und damit zur EU. Faktisch fungiert Nordzypern aber wie ein eigener Staat, in dem die türkische Lire das geltende Zahlungsmittel ist und auch das Handynetz nicht zur EU gehört.

In der belebten Fußgängerzone sind erneut zahlreiche Schwarzafrikaner zu sehen. Viele arbeiten in den kleinen Bekleidungsgeschäften der engen Gassen. Andere decken sich mit wetterfesten Pullovern und Jacken ein, die sie in Plastiktüten stopfen. Was klarmacht: Diese Leute wollen weiter – wollen nach Mittel- oder Westeuropa.

Die Migrantengruppe trifft sich mit zwei Türken, die sie begrüßt. Sie trennen sich nun in zwei kleinere Gruppen. Einer davon folgt die JF weiter. Der Türke führt die zwei verbliebenen Schwarzafrikaner in die Nähe des Checkpoints, zeigt darauf, erklärt etwas. Zum Checkpoint selbst gehen sie nicht.

„Die Migranten kommen hier nicht durch. Sie versuchen manchmal, über die Mauern zu klettern. Aber die meisten versuchen, die Demarkationslinie nachts in den unbesiedelten Gegenden zu passieren“, erzählt ein patroullierender Soldat auf der griechischen Seite des Checkpoints. „Sie schleichen sich durch die Felder. Dort, wo kaum Soldaten sind.“

Doch selbst wenn sie einer Patrouille begegnen, würde diese sie nicht aufhalten. Ihre Aufgabe sei es ja nur, Türken und Griechen zurückzuhalten. „Und der türkischen Seite ist es auch ganz recht, wenn sie gehen“, meint der Soldat.

Daß sie die Grenze queren, läßt sich im zur EU gehörenden griechischen Teil der Insel schnell feststellen. Das Stadtbild ist noch stärker von Schwarzen geprägt als auf der türkischen Seite. Inzwischen bestehen mehr als fünf Prozent der Bevölkerung EU-Zyperns aus illegalen Migranten, die hier zunächst festsitzen. Denn Zypern ist zwar EU-Mitglied, gehört jedoch nicht zum Schengen-Raum, in dem Reisefreiheit gilt.

Dennoch wollen viele von Nikosia aus weiter Richtung Larnaka. Dorthin, wo sich der Flughafen der Republik Zypern befindet. Das Geschäft mit gefälschten Pässen floriere, erzählen sie in der Stadt. „Die versuchen natürlich, sich da etwas zu beschaffen, und es gibt Leute, die ihnen das besorgen“, schildert ein Restaurantbesitzer an der Küste von Larnaka der JF, wie sich die Insel im Laufe der letzten Monate zu einem neuen Hotspot der illegalen Einreise entwickelt.

„Wer es sich leisten kann, der besorgt sich über Schleuser Dokumente. Aber die meisten kommen mit wenig Geld. Sie stehen dann vor meinem Restaurant und fragen mich nach einem Job. Und das machen sie bei allen anderen Geschäften auch.“

Wer Arbeit habe, besorge sich ein kleines Appartment in der Stadt. „Das bezahlen sie sogar selbst“, sagt der Gastronom. Der Haken dabei: „Wenn sie wieder ausziehen, ist die Wohnung oft in einem Zustand, daß sie nicht mehr weitervermietet werden kann.“

Die EU will die Rettungs- und Umverteilungsprogramme stärken

Diejenigen, die keinen Job bekommen, trifft man an der Strandpromenade. Sie sitzen auf Bänken oder lauern an den Sonnenliegen auf Touristen am Strand. „Seit die Migranten verstärkt kommen, werden dort leider auch immer unsere ausländischen Gäste bestohlen.“ Die Leute kämen dann oft zu ihm und beklagten den Verlust ihrer Brieftasche.

Auch die JF wird während ihrer Recherchen gewarnt. Eine Syrerin mit zwei Kindern winkt, hebt warnend die Hände ruft immer wieder „No“. Per Handzeichen bedeutet sie, zu ihr zu kommen. Auf ihrem Handy tippt sie arabische Schriftzeichen in ein Übersetzungsprogramm. „Vorsicht, Diebe“, lautet ihre Botschaft. Sie zeigt auf einen vermutlich nordafrikanischen Migranten am Strand. Per Übersetzer erzählt sie, daß sie ihn beobachtet hat, wie er Touristen die Geldbörse entwendete und daß man dringend die Polizei rufen müsse. Der besagte Mann bekommt die Aufregung der Frau mit, verdrückt sich schnell.

Viele der arbeitslosen Migranten würden aus den mittlerweile vollkommen überfüllten Flüchtlingsunterkünften kommen. Abends trifft man sie an den Bushaltestellen, wenn sie sich zurück in ihr Camp begeben. In einigen der Camps ist es bereits zu Unruhen gekommen, Feuer wurde gelegt. Was Erinnerungen an Moria weckt, die einst berüchtigte Migrantenunterkunft auf der griechischen Insel Lesbos. Zypern droht gerade zu einem zweiten Lesbos zu werden. Denn neben den Einreisen aus der Türkei kommen noch weitere Migranten per Boot von der nur 160 Kilometer entfernt gelegenen Küste Libanons.

Allein in diesem Jahr sind rund 20.000 Migranten illegal nach Zypern gekommen. Mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Seit Monaten schlägt der Inselstaat bei der EU-Kommission Alarm. 

Inzwischen hat Zypern gemeinsam mit Griechenland, Malta und Italien die EU-Mitgliedstaaten in einer gemeinsamen Erklärung dazu aufgefordert, die Last zu teilen. Die EU-Kommission hat jüngst eingelenkt, wenngleich sie wenig Konkretes zugestand. Ein Aktionsplan mit drei Säulen verkündete EU-Innenkommissarin Ylva Johansson: 1. Bessere Zusammenarbeit mit Partnerländern und internationalen Organisationen, 2. ein neuer Ansatz für die Suche und Rettung auf See und 3. ein neuer Solidaritätsmechanismus.

Kurz gesagt: Die anderen EU-Länder sollen weitere Migranten aufnehmen. So, wie es einst auch auf den griechischen Inseln geschehen war. Damals fungierte Deutschland als eines der Hauptaufnahmeländer. 


Lesen Sie in der kommenden Ausgabe mehr über die Migrationswege in die EU und wie die östliche Migrationsroute sich wandelt. Einst waren es Schlauchboote, die zu den griechischen Inseln paddelten. Jetzt werden ganze Jachten mit Migranten an die Stiefelspitze Italiens übergesetzt.