© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Ein Lexikon der Inkompetenz
Kryptobörsen: Die FTX-Insolvenz reißt andere Handelsplattformen mit in den Abwärtsstrudel / Milliarden-Gelder sind ähnlich wie im Fall Wirecard „verschwunden“
Thomas Kirchner

Man soll niemanden treten, der schon am Boden liegt. Doch Sam Bankman-Fried, weithin unter dem Kürzel „SBF“ bekannt, Ex-Chef der pleite gangenen Kryptobörse FTX, fordert seine Kritiker geradezu dazu heraus. Vor ein paar Tagen verkündete der 30jährige Sohn von zwei Stanford-Juraprofessoren via Twitter, er habe sich bei den Verbindlichkeiten verrechnet. Statt fünf Milliarden waren es in Wirklichkeit 13 Milliarden. Acht Milliarden an Kundengeldern soll FTX „versehentlich“, wie SBF twitterte, an einen Hedgefonds überwiesen haben, der keinem anderen als SBF gehört.

Daß sich der Chef verrechnet oder Milliarden „versehentlich“ verschwinden, ohne daß jemand aufschreit, zeigt, wie stümperhaft FTX geführt wurde. In seriösen Firmen schauen nicht nur Buchhaltung und Innenrevision, sondern auch eine Armee von Risikomanagern der Geschäftsführung über die Schulter. Verrechnet sich jemand um acht Milliarden, landet die Firma nicht vor dem Konkurs-, sondern vor dem Arbeitsgericht, weil der Verantwortliche rausfliegt, bevor der Schaden eskaliert.

Große Zahlungen wurden mit „Emojis“ in Onlinechats genehmigt

Die Schlampigkeit bestätigt auch der erste 30seitige Bericht beim Konkursgericht in Delaware. Der Konkursverwalter John J. Ray III, der sich einst mit der Abwicklung der Enron-Pleite einen Namen machte, beginnt seinen Bericht so: „Noch nie in meiner Laufbahn habe ich so ein völliges Versagen erlebt.“ Der Rest liest sich wie ein Konversationslexikon der Inkompetenz. Aufsichtsratssitzungen fanden gar nicht erst statt. Zuständigkeiten blieben unklar. Bücher wurden nicht geführt. Zahlungen wurden mit Emojis in Onlinechats genehmigt.

Besonders peinlich für eine milliardenschwere Kryptobörse: Grundregeln der IT-Sicherheit wurden nicht eingehalten. Zugang zu den Digitalwährungen erfolgte über ein ungesichertes E-Postfach, zu dem mehrere Mitarbeiter gleichzeitig Zugang hatten. SBF konnte durch eine Hintertür in der Software auf Kundengelder zugreifen. Nicht einmal ein Verzeichnis aller FTX-Mitarbeiter gibt es. Noch sucht Ray Kryptowährungen im Milliardenwert. Einige konnten wohl auf USB-Sticks sichergestellt werden. Von 5,5 Milliarden, die SBF noch vor wenigen Tagen bei FTX International liegen haben wollte, konnte Ray bisher nur ein paar hunderttausend finden. Krypto-Whistleblowern werden nun von der US-Marktaufsichtsbehörde CFTC „sehr hohe“ Zahlungen versprochen, um so weitere fehlende Gelder aufzuspüren. Und welche Rolle spielte die 28jährige Caroline Ellison, Chefin von SBFs Tradingfirma Alameda Research? 662 Millionen wurden offenbar von den Behörden der Bahamas beschlagnahmt, die das Konkursverfahren im US-Bundesstaat Delaware nicht anerkennen.

Der Verdacht liegt nahe, daß absichtlich Chaos herrschte, um Betrug zu vertuschen. Denn erste Hinweise beschreibt Ray: Ein Teil der auf den Bahamas für 74 Millionen Dollar gekauften Immobilien sollen mit Firmengeldern bezahlt, aber im Namen der Angestellten ins Grundbuch eingetragen worden sein. Die Wirtschaftsprüfer sollen ihren Sitz nur im virtuellen „Metaverse“ haben. Auch soll SBF, als er im Oktober 420 Millionen Dollar Kapital zum Ausbau der Firma einsammelte, den Anlegern verschwiegen haben, daß sie in Wirklichkeit Aktien von ihm im Wert von 300 Millionen übernahmen. Nur 120 Millionen flossen an FTX.

Für Behörden und Anwälte wäre das ein gefundenes Fressen, denn Prospekthaftung für das Verschweigen relevanter Informationen greift auch bei außerbörslichen Anlagen. Die 80 Anleger, die sich vom Wachstum blenden ließen und Anteile an FTX für zwei Milliarden Dollar erwarben, sind selbst schuld. Es sind die gleichen Risikokapitalgeber, die auch andere, im Boom hochfliegende und inzwischen abgestürzte Firmen zu abstrusen Bewertungen finanzierten. Auch FTX war maßlos überbewertet. Es setzte 2021 Kryptowährungen mit einem Volumen von 719 Milliarden Dollar um und erzielte einen Gewinn von 388 Millionen bei Einnahmen von einer Milliarde. Dafür gaben die Investoren der Firma einen Wert von 32 Milliarden Dollar. Die Deutsche Börse hat einen in etwa gleich hohen Marktwert bei einem Gewinn 2021 von 1,2 Milliarden Euro und Volumen von 98 Milliarden Euro allein im Oktober.

Bedenkt man, daß FTX zwar ein hohes Wachstum hat, Kryptowährungen allerdings geringere Margen als traditionelle Wertpapiere haben, die Kryptotechnik sich ständig wandelt und Millionenverluste durch Hackerangriffe üblich sind, sollte FTX deutlich niedriger bewertet werden als eine traditionelle Börse. Brisant ist, daß FTX das von Risikokapitalgebern aufgenommene Kapital in andere Firmen der gleichen Risikokapitalgeber investierte.

Die Gutgläubigkeit der Anleger erinnert an Wirecard (JF 46/22). Und wieder haben die Behörden weggeschaut. SBFs Hedgefonds erwarb neue Kryptowährungen vor ihrer Aufnahme in der FTX-Börse. Durch die Aufnahme steigerte sich ihr Wert, der Hedgefonds konnte sie mit Gewinn verkaufen. Wegen dieser Masche wurden im Sommer Ex-Manager der Kryptobörse Coinbase und der NFT-Börse OpenSea in den USA verurteilt. Vermutungen, daß Kryptobörsen Daten ihrer Kunden mißbrauchen, um Insidergeschäfte zu machen, kursieren schon länger, sind aber nur in diesen zwei Fällen verfolgt worden.

40 Millionen Dollar Unterstützung für Joe Bidens US-Demokraten

Im Risikomanagement der Finanzkonzerne wimmelt es von Mathematikern und Physikern, die komplizierte Modelle handhaben können. Obwohl SBF einen Physik- und Matheabschluß des rennomierten Massachusetts Institute of Technology hat, vernachlässigt er gerade den Bereich, in dem er intellektuell in der Lage gewesen wäre, Systeme erster Klasse aufzubauen. Er ließ sich stattdessen lieber mit Bill Clinton, Tony Blair und Gisele Bündchen fotografieren.

Und nicht nur die waren begeistert von FTX, weil es ein neuartiges Unternehmen sein wollte, das mit „wirksamem Altruismus“ Millionen an meist linke Organisationen spendete. 40 Millionen Dollar gingen so an die US-Demokraten anläßlich der Zwischenwahlen im November. SBF und FTX finanzierten auch Kampagnen zur Unterstützung der Corona-Regierungspolitik. Die Pleite ist kein Einzelfall. Andere Kryptobörsen sind schon untergegangen, andere haben sich gegenseitig gerettet. Solange Kryptowährungen nicht als Zahlungsmittel genutzt werden, sondern nur reine Spekulationsobjekte sind, können sie nur überleben, wenn ständig frisches Kapital nachgeschossen wird. Weitere Börsenpleiten sind deshalb programmiert.

Erster FTX-Konkursbericht:  documentcloud.org