© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Kein Rückzug mehr möglich
Reportage aus Armenien: Seit biblischer Zeit verteidigt das christliche Volk im Kaukasus seine Heimat. Jüngst entflammte der Konflikt um Bergkarabach wieder
Hinrich Rohbohm

Der Angriff kam plötzlich und unerwartet. „Wir hatten Glück, wir waren gerade unterwegs, als die Geschosse unser Haus trafen“, erzählt Edgar Salbuns der JUNGEN FREIHEIT. In der Nacht vom 12. auf den 13. September dieses Jahres flammte im Südkaukasus erneut ein Konflikt auf, der in Europa angesichts der Greueltaten des Ukraine-Krieges in Vergessenheit gerät. In dieser Nacht eröffnete Aserbaidschan das Feuer auf sein Nachbarland Armenien. Gut 100 armenische Soldaten wurden bei dem Angriff getötet, ebenso etwa sechzig Soldaten Aserbaidschans. Beide Staaten sind seit Jahrzehnten verfeindet. Besonders die Region Bergkarabach, in der überwiegend Armenier leben, die jedoch völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, ist zwischen ihnen umstritten.

Doch an jenem 12. September war es die Stadt Goris in der Grenzregion Syunik, die von aserbaidschanischen Soldaten beschossen wurde. Artilleriegranaten schlugen in den Dachstuhl von Salbuns Haus ein, der jetzt nur noch aus einigen verkohlten Holzbalken besteht. Der Hausbesitzer zeigt in Richtung der Berge, dessen Gipfel durch die untergehende Abendsonne gerade in orangefarbenem Licht erglühen.

Rußland ist eine geschwächte Schutzmacht

„Von dort oben aus haben sie uns beschossen“, erklärt er. In seiner Hand hält er einzelne Splitter der im Haus eingeschlagenen Sprengkörper. In der Wohnstube ist die Zimmerdecke durchbrochen. Edgar Salbuns und seine Familie kämpfen nun gegen Kälte und Feuchtigkeit, die jetzt ins Innere der Wohnung eindringen. Reparaturen sind unerläßlich. Die Winter sind kalt in Armenien. Doch dafür benötigt die Familie Geld, das sie nicht hat.

In der Nachbarschaft von Edgar Salbuns sind bereits die Bagger angerückt. Die meisten Schäden sind inzwischen behoben. Spuren von den Einschußlöchern in den Hauswänden, die aserbaidschanische Soldaten mit ihrer großkalibrigen Munition bei ihrem Angriff hinterlassen hatten, existieren dort nur noch auf Fotos der Anwohner.

Eine Vorstellung davon, wie es während der kriegerischen Auseinandersetzungen zugegangen ist, erhält man auf der Fahrt von Armeniens Hauptstadt Eriwan in Richtung der 250 Kilometer südöstlich gelegenen Grenzstadt Goris. Auf der Strecke führt der Weg dicht an der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan vorbei. Die Straße befindet sich in Reichweite aserbaidschanischer Scharfschützen. Beim Blick Richtung Süden sind Wachtürme zu erkennen, von denen aus armenisches Territorium unter Beschuß genommen werden kann. Auf der anderen Seite der Grenze hat das armenische Militär einen Erdwall errichtet, auf dem in regelmäßigen Abständen alte Reifen in Dreiecksform aufgetürmt liegen. Stellungen für die Soldaten.

Immer wieder fahren Militär-LKW uns entgegen. Mit russischer Flagge. Moskau tritt als Schutzmacht in der Region auf. Wirklich stark sei die Militärpräsenz nicht. Die Anwesenheit gleiche eher einem symbolischen Flaggezeigen. Um den Armeniern Sicherheit zu garantieren, sei zu wenig von Moskaus Militär vor Ort, sagen sie in Armenien. Der Ukraine-Krieg fordert von Rußland seinen Tribut. Was der Grund dafür gewesen sein dürfte, daß der nach dem letzten Krieg im Jahre 2020 eingefrorene Konflikt nun erneut wieder ausgebrochen ist.

Gleichzeitig halten sich in Armenien laut Schätzungen bis zu 80.000 Russen auf, die nach der Teilmobilisierung des Putin-Regimes aus dem nördlichen Riesenreich geflohen sind. Sie haben sich in den armenischen Hotels und Apartments einquartiert, warten darauf, daß der Krieg in der Ukraine an ihnen vorüberzieht. Auch das Hotel, in dem die JF untergebracht ist, hat keine Zimmer mehr frei. Alles sei von Russen belegt. Für die Armenier ein erfreulicher Umstand. „Die Russen bringen uns viel Geld ins Land“, bestätigen die Hotelangestellten.

In der Lobby der Unterkunft sitzen viele von ihnen bis spät in die Nacht, feiern, trinken Wodka, tragen Kleidung mit Rußland-Symbolen. Nicht wenige sind sogar Anhänger Putins. Für ihn in die Schlacht ziehen wollen sie trotzdem nicht. Obwohl das russische Militär in Armenien präsent ist, hat es keine Befugnis, gegen die vor der Einberufung Geflohenen vorzugehen.

Unterdessen kämpft Armenien ähnlich wie die Ukraine um sein politisches Überleben. Auf dem Heldenfriedhof von Eriwan ruhen die gefallenen Soldaten aus den Kämpfen mit dem benachbarten Turkvolk der Aseris. Jedes der Gräber ist mit einer armenischen Flagge geschmückt. Viele stammen aus den neunziger Jahren, als nach dem Ende der Sowjetunion, deren Teil beide Länder waren, der Kampf um die Region Bergkarabach tobte. Andere Gräber sind noch ganz frisch. Es sind jene, die im September für die Verteidigung ihres Landes ihr Leben ließen, als es von Aserbaidschan überfallen wurde. Aserbaidschan wiederum spricht von Provokationen, die es von armenischer Seite zuvor gegeben haben soll.

Von den Gräbern der gefallenen Soldaten aus schweift der Blick hinüber zu dem mächtigen Berg Ararat, an dem der Bibel zufolge einst Noah mit seiner Arche nach der Sintflut landete. Der christliche Glaube ist in dem Land tief verwurzelt, die armenisch-apostolische Kirche eine der ältesten christlichen Glaubensgemeinschaften der Welt. Ein wenig weiter westlich befindet sich auch der Sitz von Karekin II. Nersissian, Weltoberhaupt der armenischen Kirche, der in der Kathedrale von Etschmiadsin residiert. In der Antike war Etschmiadsin die Hauptstadt Armeniens. Auch von hier blickt man auf den Ararat, der sich heute bereits auf dem Territorium der Türkei befindet.

Einst erstreckte sich Armenien, das schon im ersten Jahrtausend vor Christus existierte, über weite Teile der Osttürkei, reichte zu seiner Blütezeit vom Kaspischen Meer bis ans östliche Mittelmeer. Doch schon in der Antike war das Land eingeklemmt zwischen zwei großen Imperien, dem Römischen Reich im Westen und dem Perserreich im Osten.

Heute hat das Land seine Zugänge zum Meer lange verloren, versucht, eingekreist von totalitären Regimen, seine Souveränität und sein verbliebenes Territorium zu behaupten. Im Osten wird es von seinem Erzfeind Aserbaidschan bedroht, das nach dem Krieg im Jahr 2020 weitere Teile Bergkarabachs besetzen konnte. Im Westen grenzt es an Erdoğans Türkei, einen Verbündeten Aserbaidschans, im Süden an den schiitischen Gottesstaat Iran. Einzig im Norden hat es mit Georgien ein Nachbarland, das zwar keine Bedrohung darstellt, aber aufgrund seiner Konflikte mit Rußland auch kein einfacher Nachbar ist. Georgien grenzt bereits an Rußland, das eher aus der Not heraus als Schutzmacht Armeniens dient.

Eine EU-Delegation verschafft sich einen Überblick

Unterdessen bittet seine Heiligkeit Karekin II. in der Bibliothek seines Klosters zum Empfang. In ihr lagern Bücher, die weit bis in die Antike zurückreichen. „Wir haben keine Möglichkeit, uns zu wehren“, sagt der Patriarch. Alles, was man eigentlich wolle, sei in Frieden leben zu können, sagt er einer Delegation des Europäischen Parlaments, die nach Armenien gereist ist, um dem Land seine Solidarität zu versichern und sich ein Bild von der aktuellen Lage vor Ort zu machen. Aus Deutschland mit dabei: Lars-Patrick Berg von den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR).

„Deutschland hat sich im Südkaukasus mit seinem Engagement bisher stark zurückgehalten“, kritisiert Berg. Dabei sei die Region als „Bindeglied zwischen Europa und Asien“ vor allem aus energie- und handelspolitischer Sicht von „geopolitischer Bedeutung“. Angesichts eines durch den Ukraine-Krieg geschwächten Rußlands und einer im Verbund mit Aserbaidschan „aggressiv“ auftretenden Türkei müsse die EU schon aus Eigeninteresse aktiver werden. „Der Gasdeal der EU-Kommission mit Aserbaidschan hat in Armenien viel Vertrauen zerstört“, betont Berg.

Das sieht auch sein niederländischer Kollege Peter van Dalen von der Europäischen Volkspartei (EVP) so, der bei diesem Punkt im Gegensatz zu EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine andere Meinung vertritt. „Ich halte den Gasdeal mit Aserbaidschan für einen folgenschweren Fehler.“ Auch der ehemalige Vizepräsident des Europaparlaments, Fabio Massimo Castaldo von der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung, fordert stärkere Bemühungen der EU, um den Konflikt mit diplomatischen Mitteln beizulegen.

„Wir sind hier in sehr schwierigen Zeiten“, schildert der armenische Parlamentspräsident gegenüber der JF die kritische Situation seines Landes. Schutz etwa durch eine Mitgliedschaft Armeniens in der Nato sei derzeit keine Option. „Die Türkei ist in der Nato. Sie würde sich einer Aufnahme unseres Landes entgegenstellen.“ Die armenischen Parlamentarier beklagen gegenüber der EU-Delegation: „Rußland hat die Ukraine überfallen und ist von der EU zu Recht mit Sanktionen belegt worden. Aserbaidschan hat Armenien überfallen. Warum sanktioniert die EU dann nicht auch Aserbaidschan?“

Im Gespräch mit der JF sieht der stellvertretende armenische Außenminister Paruyr Hovhannisyan die Mitgliedschaft in der Europäischen Union als langfristige Perspektive an. „Das ist durchaus eine Option für uns.“ Das Problem: Eine Aufnahme in die EU ins Auge zu fassen, würde ähnlich wie im Falle der Ukraine zu Konflikten mit Rußland führen. Gleichzeitig räumt Hovhannisyan ein: „Armenien muß seine Interessen im Ausland noch stärker und nachdrücklicher artikulieren.“ So soll der Konflikt im Südkaukasus nicht länger ein vergessener Konflikt bleiben.

Foto: Heldenfriedhof in Eriwan, im Hintergrund der Berg Ararat: Armenien erhob als erster Staat das Christentum zur Staatsreligion