© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Die Herrschaft des Verdachts
Essay: Der Austausch verschiedener Meinungen, mitunter sogar schroffer Gegensätze, ist die Voraussetzung für eine Gemeinschaft der Freien
Eberhard Straub

Politische Systeme werden nicht von ihren Kritikern delegitimiert, sondern durch Regierungen und Institutionen. Darüber unterrichtet die Geschichte. Der spektakulärste Zusammenbruch und Umbruch eines führenden Staates und einer vorbildlichen Gesellschaft in Europa ist mit der Französischen Revolution verbunden, dem Ergebnis von Ungeschicklichkeiten mehrerer Monarchen und ihrer Behörden, mit den Ursachen und Folgen einer Reihe von Krisen fertig zu werden. Die Grundsätze und Prinzipien des königlichen Staates verloren zuerst unter den Eliten und allmählich überall ihre Überzeugungskraft.

Die Grundsätze und Prinzipien der demokratischen Republik – Diskussion und Öffentlichkeit – sind längst fragwürdig geworden. Deshalb gibt es eine zunehmende Unruhe unter den Bürgern, aber nicht unter den „systemrelevanten Kräften“ in Parteien und Ministerien oder den mit ihnen vielfach „verquackelten“ Medien. Ihnen fällt höchstens – ähnlich wie einst in Frankreich – der Appell ein: Weiter so! Denn „die Menschen draußen im Lande“ leben in dem besten Staat, den es je gegeben hat, der deshalb alternativlos und der Diskussion entzogen ist.

Wer von dieser Botschaft nicht überzeugt ist, macht sich verdächtig, nicht nur ein unzulänglicher Bürger, sondern ein unzuverlässiger Demokrat und gar ein Verfassungsfeind zu sein, der die Bundesrepublik destabilisieren will. Der repräsentative öffentliche Raum für die Debatte ist das Parlament. Doch selbst ein leidenschaftlicher Verfechter der bundesrepublikanischen Errungenschaften käme nicht auf den Gedanken, noch an der alten, liberalen Theorie festzuhalten, daß im Parlament aufgrund des gründlichen Austausches von Argumenten die Vernunft siegt, die im Beschluß der Mehrheit laut vernehmbar wird.

Im Plenum wird nur von wenigen Abgeordneten und meist sehr knapp diskutiert. Die wichtigste Arbeit wird in Ausschüssen geleistet, und viele Gesetze werden einfach durchgewinkt, weil sie im Zusammenhang mit Auflagen aus Brüssel und den dort versammelten Einrichtungen stehen. Insofern kann der Eindruck entstehen, daß alles Wichtige „hinter den Kulissen“ verabredet wird in Gremien und Kreisen, die sich jeder öffentlichen Kontrolle entziehen.

Es gibt im Zeitalter der Öffentlichkeit keine Offenheit mehr. „In der Öffentlichkeit hört die Offenheit auf und beginnt das Geheimnis“, wie Carl Schmitt 1924 notierte. Es ist daher kaum verwunderlich, daß ununterbrochen „mehr Transparenz“ gefordert wird, ohne daß es zu ihr kommt. Als das wahre Forum, auf dem Öffentlichkeit inszeniert wird, erweisen sich die vielen Gesprächsrunden im Fernsehen, ohne die Politiker und Parteien kaum noch wahrgenommen würden. Private Arrangements ersetzen die repräsentative Öffentlichkeit, die theoretisch zur „repräsentativen Demokratie“ gehört.

Immer wieder wird die Gewaltenteilung beschworen. Doch sie ist längst außer Kraft gesetzt, seit es die vornehmste Aufgabe des Parlaments sein soll, einem Kanzler und seinen Gefährten beim „Durchregieren“ nicht lästig zu fallen. Eine energische Opposition hat es im Lande der Volksparteien und Volkskanzler selten gegeben, die weniger vom Staat reden als von der Verantwortungsgemeinschaft. Gemeinsam sind wir stark! Wir schaffen das! Wir müssen zusammenhalten!

Außerdem haben die Parteien und die ihnen nahestehenden NGOs alle Institutionen einschließlich der Medien durchdrungen, so daß die so oft angerufene „Gemeinsamkeit der Demokraten“ eine Homogenität schafft, die der Diskussion widerspricht, die sich aufgrund der Einmütigkeit erübrigt. Kurt Schumacher hatte am 20. September 1949 das Wesen der Opposition bestimmt als permanenten Versuch, der Regierung „den Gestaltungswillen der Opposition aufzuzwingen!“ Eine solche Absicht würde heute sofort den Verfassungsschutz alarmieren, der seine Aufgabe darin sieht, wie der alte Attinghausen in Schillers Wilhelm Tell die Verfassungspatrioten zu ermahnen: Seid einig, einig, einig!

Eine solche Haltung widerspricht vollkommen dem Grundsatz einer freien Diskussion, die sich als Austausch verschiedener Meinungen, unter Umständen sogar schroffer Gegensätze, entwickelt. Sie ist das Bindemittel, das eine Gemeinschaft der Freien vereinigt, die sich im Recht manifestiert und ohne eine Vielfalt der Ansichten und Pläne, ohne Gegensätze gar nicht auskommt. 

Gemeinschaft und Gegensatz stehen in einer Wechselwirkung. Liberale wußten noch, daß die Republik ein Rahmen sein muß, der heftige Gegensätze ermöglicht, ja zu ihnen nötigt, um die Gemeinschaft im Wechsel der Zeiten vor Erstarrung zu bewahren und zu erweitern, was heißt, sich in stets neuen Variationen um Einigkeit und Eintracht in Vielfalt zu bemühen, statt nach Einheit und Vereinheitlichung zu streben.

Liberale im klassischen Sinne gibt es nicht mehr. Vom Rechtsstaat ist zuweilen die Rede, von der Republik und vom Staat kaum noch. An deren Stelle werden die Werte gesetzt und die Wertegemeinschaft, denen – als höchste Mächte – Staat und Recht ein- und untergeordnet werden. Die Wertegemeinschaft ist eine Glaubensgemeinschaft, ja Heilsgemeinschaft, die jeden aus allen Übeln errettet, der sich den Werten hingibt und, wertvoll geworden, missionarisch unter den noch Wertlosen tätig werden muß, um diese, wie einst die in die weite Welt ausgesandten Gralsritter, von Unzulänglichkeiten zu befreien und zu würdigen Mitgliedern der „westlichen Wertegemeinschaft“ als Welterlösungsanstalt zu erziehen. Damit entfernt sich die Republik und Demokratie von ihren Voraussetzungen. 

Diese Gefahr besteht immer, sobald „die Demokratie“ eine totale Verantwortung für alles und jedes beansprucht, in die Privatheit massiv eingreift und sich anmaßt, jeden zur Rechenschaft ziehen zu dürfen, der sich weigert, den Sinn seiner Existenz darin zu finden, ein wahrhafter und wehrhafter Demokrat zu sein, sich dem alle umfassenden System einzupassen, um als tüchtig vor sich hin schnurrendes Funktionselement darin Freude zu finden, anderen Freude zu bereiten.

Als Gegensatz zur Demokratie wird stets der Totalitarismus der NSDAP oder der KPdSU und ihrer Systeme genannt. Das ist insofern recht willkürlich, weil Massenbewegungen während des Übergangs zur Massendemokratie gar nicht undemokratisch sein können. Außerdem verstanden die radikalen französischen Jakobiner ihre Schreckensherrschaft 1793/94 als demokratisch und republikanisch. Die Republik muß sich, wie sie beteuerten, mit dem Terror verbünden, um Verräter und Verschwörer unschädlich zu machen und die Vernunft vor Lüge und Hinterlist zu schützen. In der Republik herrschen die Vernunft und die Natur. Da es nur eine Vernunft und eine Natur gibt, kann es in der vernünftigen Republik, die jeden zur Vernunft bringen und von Irrtum und Aberglauben befreien will, keine Fraktionen und parteiische Gegensätze geben. 

Der Despotismus der Freiheit ist unvermeidlich, um die Tyrannen zu vernichten, die unfrei machen: nämlich Haßprediger, Verbreiter falscher Nachrichten oder erklärte Feinde der Aufklärung und „der Wissenschaft“, im Dienste von Monarchen und Papisten, den Zwingherrn der Gewissen. Was eine Republik ausmacht, in der die unerschrockene und selbstlose Tugend regiert, ist die Bereitschaft und Fähigkeit, alles vollständig zu vernichten, was sich ihr widersetzt. Die wahre Humanität besteht darin, sämtliche Feinde auszulöschen, die andere daran hindern wollen, zur Selbstbestimmung zu erwachen und ein wahrer Mensch unter Mitmenschen zu werden. Der Gesetzgeber folgt seiner Pflicht, die von Priestern, Königen und Feudalherren, von Verbrechern in ihrer Würde verletzten Menschen zu dem zu bilden, zu erziehen, was sie sein sollen. Die Republik hat einen Erziehungsauftrag, die Verräter zu eliminieren sowie jeden, der nicht entschlossen mitmacht, sondern, ohne an die allgemeine Wohlfahrt und Gesundheit zu denken, seinen privaten Launen nachgibt und mit seinem Eigensinn dem Volkswohl schadet. 

Das Fundament der befreienden und vernünftigen Regierungen, die als Wohlfahrtsausschuß für die geistige und physische Gesundheit zuständig sind und endlich eine Gleichheit der Lebensverhältnisse ermöglichen, auf die ein freies Leben angewiesen ist, weil ohne sie die Bürger und Menschen weiterhin Täuschungen erliegen, ist daher das Mißtrauen. Im Vertrauen äußert sich eine sentimentale Schwäche, solange noch nicht alle aufrichtig zu Brüdern geworden sind und sich deshalb als saumselig bei der Erfüllung ihrer bürgerlichen Pflichten erweisen. Ist die Republik ein heiliges Reich, in dem die Tugend herrscht, dann wird dort nur unterschieden zwischen denen, die in der Tugend stehen, also die richtige Gesinnung haben, und denen, die sich als gesinnungsuntüchtig erweisen. Wie Hegel sagt: „Es herrscht somit der Verdacht; die Tugend aber, sobald sie verdächtig wird, ist schon verurteilt.“ 

Unter solchen Voraussetzungen kann es in einem Staat nie zur Ruhe und zum Frieden kommen. Die Republik und aufrechten Demokraten befinden sich in dauernder Aufregung, zumal sie ja gar nicht sicher sein können, von Tyrannen überfallen zu werden, die deren autoritätsfreie Wertegemeinschaft als Bedrohung auffassen. Obwohl Demokraten und Republikaner keine Kriege führen, müssen sie dennoch zu den Waffen greifen, weil Republiken erst in Frieden und Freiheit leben können, wenn ihre Nachbarn ebenfalls in Republiken und Demokratien leben. Deshalb sind sie gezwungen, überall mit ihrer kämpferischen Tugend zu intervenieren und für Regimewechsel zu sorgen, um alle vorerst noch Ungleichen sich anzugleichen, unter Umständen im Bunde mit Angst und Schrecken, um den Feind ein für alle Male zu erledigen. Innere und äußere Feinde wurden kriminalisiert. Ein dauerhafter Frieden mit Verbrechern war nicht mehr möglich, auch gar nicht erlaubt. Wieviel jakobinischer Wille zur „schöpferischen Zerstörung“ erfüllt heute Menschenfreunde und deren „Wertegemeinschaft“! Immerhin begriffen sich die Jakobiner keineswegs als totalitär, vielmehr als konsequente Demokraten und Republikaner, so wie unsere westlichen, konsequenten, wahrhaften und wehrhaften Demokraten! 






Dr. phil. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, habilitierter Historiker, Publizist und Buchautor, war Feuilletonredakteur der FAZ und Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin.