© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Fallstricke der Identitätspolitik
Erwachtes Bewußtsein: Die abendländische Denktradition diagnostiziert die Woke-Ideologie als Krankheit der Seele
Felix Dirsch

Der „Erwähltismus“, dessen mitunter rabiat-militante Umsetzung auf den Straßen der USA stattfindet, zählt zu den wesentlichen Symptomen der „Spaltung Amerikas“ (Arthur M. Schlesinger). Ein erwachtes Bewußtsein, so die Meinung der Anhänger, soll den Sinn für sozial-geschlechtliche Ungerechtigkeiten und rassistische Strukturen schärfen. Spätestens seit der Tötung des kleinkriminellen Farbigen George Floyd läßt sich ein stetiges Anwachsen dieser Bewegung erkennen. Selbst bei den US-Demokraten, die als politischer Arm dieses Aufbruchs fungieren, kann man hier und da Unbehagen vernehmen. Eine moderate Vertreterin der Biden-Partei, Tulsi Gabbard, kehrte der Partei unlängst den Rücken mit der Begründung, ihre langjährige politische Heimat sei zu woke und zu anti-weiß. 

Der Aktivismus, der seine Impulse zumeist auf Campus-Geländen empfängt, ist nicht ohne theoretische Vorarbeiten postmoderner Autoren verständlich. Bereits in den 1970er und 1980er Jahren ist in den Geistes- und Kulturwissenschaften der Umbruch weg von der Ökonomie hin zur Kulturkritik unübersehbar. Auch die Marxismus-Deutung der Linken ist von dieser Verschiebung betroffen.

Obwohl postmoderne Konzeptionen Legion sind, lassen sich die Kerngedanken relativ übersichtlich darstellen: Wissen, Wahrheit und Sprache werden auf dieser Linie als Ergebnis von Machtstrukturen herausgearbeitet. Es handelt sich bei ihnen nicht um objektive Realitäten, sondern um soziale Konstrukte. Aufgabe der Kulturwissenschaften ist es primär, diese zu dekonstruieren. Die Unterprivilegierten, die in solchen meist subtilen Diskriminierungsprozessen ihre Würde angeblich verlieren oder verloren haben, sollen sie in Theorie und Praxis von neuem erhalten. Der französische Philosoph Michel Foucault ist einer der wichtigsten Vordenker einer derartigen Methode.

Das Alte kommt gern im Gewand des Neuen daher und umgekehrt

Race, Gender und Identität sind Kernentwürfe einer „identitätslinken Läuterungsagenda“ (Sandra Kostner). Sie bezieht ihre moralische Überlegenheit aus dem Kontrast zu den als schuldig angeprangerten Feindbildern (weiße Männer, frühere Kolonialisten, „Zwangsheteronormative“ und andere). Bei so viel theoretischer Versponnenheit verwundert es, wie der Schritt zum Aktionismus zustande kommen konnte. Diese Verschiebung ist im Grunde genommen folgerichtig, zeigte sich doch in vielen Debatten ein offenkundiger performativer Widerspruch. Radikale Skeptiker und Kulturrelativisten unter den Identitätskämpfern werden nicht selten zu verbohrten Dogmatikern, wenn es um die Verteidigung der Social-Justice-Wahrheiten geht. Es bleibt nur die Flucht nach vorne – zur Tat.

In diesem Kontext wird ein bekanntes kulturgeschichtliches Phänomen deutlich: Das Alte kommt (ungeachtet aller Wandlungen im Detail) gerne im Gewand des Neuen daher und umgekehrt. Worte wie Handlungen der Woke-Krieger gehören (jedenfalls im Grundsatz) zu jenen berühmten Fußnoten Platons, die nach Meinung des britischen Philosophen und Logikers Alfred N. Whitehead die abendländische Denktradition der letzten 2500 Jahre im Nukleus ausmachen. Die Social-Justice-Fighter liegen auf der Linie der „ewigen Linken“ (Ernst Nolte).

Auf den Verfall der Demokratie folgt die Tyrannei

Der Relativismus der Sophisten, den man gern im Sinne eines antiken Humanismus auslegt, rief den Widerspruch Platons hervor. Dieser setzte den Kontrast zu Protagoras mit dem fundamentalen Diktum, daß Gott das Maß aller Dinge sei. 

Überhaupt findet man in Platons „Politeia“ die Beschreibung jener Erscheinungsformen, die an die radikalisierten Erwachten erinnern. Er betrachtet den Prozeß des Niedergangs der Polis als Resultat der Störung der Kollektivseele. Dieser Defekt zeige, daß der rechte hierarchische Aufbau von Vernunft, Mut und Begierde nicht mehr vorhanden sei. Die sich ankündigende Tyrannei, für den griechischen Meisterdenker das letzte Stadium des Verfalls nach der Demokratie, wird beschrieben als Folge des Einflusses von Egalitarismus, Relativismus und sexueller Permissivität. Letztlich steht für Platon am Übergang von der Demokratie in die Tyrannei handfestes Losschlagen: Die Transformation geschieht, wenn der mächtige Volksverführer mit großer Anhängerschaft wie der Mann in der mythischen Sage entschlossen-rigide handelt – und zwar als „Wolf“, wie es kurz darauf, nach einem etwas umständlichen Exkurs, heißt.

Die parasitäre Drohnenklasse, die im achten Buch der „Politeia“ umrissen wird, zerfällt in zwei Abteilungen: in eine mit „Stacheln“ und in eine ohne „Stacheln“. Letztere bezeichnet die Mitläufer, die eher als harmlos einzustufen sind. Als gefährlich müssen hingegen die aggressiven Aufrührer betrachtet werden. Wir wissen, welcher Typus heute diesen Anspielungen nahekommt. Man kann dem katholischen Gelehrten Edward Feser folglich nur zustimmen: „Die reinste zeitgenössische Umsetzung des tyrannischen Persönlichkeitstypus, vor dem uns Platon gewarnt hat, ist der linke Social Justice Warrior.“

Ein weiterer Aspekt ist erwähnenswert. Der Linguist John McWhorter hat in seiner vielbeachteten Schrift „Wie der neue Rassismus die Gesellschaft spaltet“ auf einen essentialistischen Grundzug der Woke-Ideologie aufmerksam gemacht: Weiße könnten sich nicht in das Schicksal der Deklassierten einfühlen; nur die Betroffenen selbst seien dazu in der Lage. 

McWhorter hebt zudem den „evangelikal“-innerweltlichen Grundzug der neuen, stark moralistisch grundierten Religion hervor. Dieser zentrale Aspekt wird von einer einflußreichen Richtung konservativer Kulturkritik thematisiert: Die Denk-tradition von Friedrich Nietzsche über Max Scheler und Arnold Gehlen bis zu Hermann Lübbe und Alexander Grau analysiert den Triumph der „Gesinnung über die Urteilskraft“. Er ist nicht selten mit Gewaltausbrüchen verbunden.

Der Trend zur innerweltlichen Religion gewinnt nicht nur in der Neuzeit höchste Mächtigkeit; er gilt bekannten Konservativen sogar als Wesen der Moderne schlechthin. Der Politikwissenschaftler Erik Voegelin (1901–1985) hat auf der Grundlage des Ansatzes von Platon und Aristoteles die Zerstörung basaler Ordnungsstrukturen durch verschiedene immanente Formen von Religion verfolgt. Diese bezeichnet er als Gnosis – eine Strömung, die epochenübergreifend ihr destruktives Werk vollendet. Der Gelehrte schlägt einen beeindruckenden Bogen vom mittelalterlichen Sektenwesen über den neuzeitlichen Liberalismus bis zu den „politischen Religionen“ des 20. Jahrhunderts. Kommunismus und Nationalsozialismus entlehnen von christlich-jüdischen Traditionen apokalyptische Begrifflichkeiten wie „Tausendjähriges Reich“ und „Reich der Freiheit“. 

Es lohnt sich, vor dem aktuellen Hintergrund einige von Voegelins Schriften heranzuziehen. Sie liefern die historische Folie, vor der man den identitätslinken Diskurs als „Religionsderivat“ (Alexander Grau) besser versteht. Die Publikation „Volk Gottes“ erörtert den „Geist der Moderne“ unter anderem am Beispiel der Albigenser und des frühmittelalterlichen Denkers Johannes Scotus Eriugena. Voegelin belegt, wie sehr solches „gnostische“ Denken von dem Ziel einer Verwirklichung der „Welt des Lichtes“ geprägt ist. Dieses strebt eine „Umverteilung der weltlichen Vorteile“ an. Durch den mystischen Glauben als „höchsten Akt“ müsse die „Welt des Unrechts in eine Welt des Lichts“ verwandelt werden, so Voegelins Interpretation gutmenschlicher Sekten-Absichten.

Um die geistigen Zerfallserscheinungen der Woke-Vorläufer zu verdeutlichen, liefert die Geschichte in allen Zeitaltern genügend Anschauungsmaterial – Grund dafür, auch in der Gegenwart die Erben wachsam im Auge zu behalten.

John McWorter: Die Erwählten: Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022, gebunden, 256 Seiten, 23 Euro