© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Das goldene Zeitalter der Achtziger
Kino I: „Zeiten des Umbruchs“ ist ein Film aus der Ära Ronald Reagans, von dem man sich wünscht, daß er nie endet
Dietmar Mehrens

New York, Stadtteil Queens, 1980. Die Ära des glücklosen US-Präsidenten Jimmy Carter steht vor dem Ende. Sein Herausforderer Ronald Reagan sitzt bereits in den Startlöchern, um ihn bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen abzulösen, und ist immer öfter im Fernsehen zu sehen. „Schmock“ nennt ihn Irving Graff (Jeremy Strong), der Vater des zwölfjährigen Paul (Banks Repeta), als er in kriegerischer Rhetorik von einem drohenden Armageddon spricht. Der Äußerung des späteren Präsidenten verdankt der Film seinen Originaltitel: „Armageddon Time“.

Pauls gutmütige Mutter Esther Graff (Anne Hathaway), die sich im Elternbeirat der Schule engagiert, muß ihren Sohn gelegentlich gegen den strengen Vater in Schutz nehmen. Denn zusammen mit seinem Freund Jonathan (Jaylin Webb), einem Kind der Unterschicht, heckt der rothaarige Wuschel- und Dickkopf allerhand Unsinn aus. In der Schule kann er sich nur für Kunsterziehung erwärmen. Nach einem Klassenausflug ins Guggenheim-Museum und der Begegnung mit expressionistischen Kandinsky-Gemälden beschließt Paul, selbst Künstler zu werden. 

Chronist amerikanischer Einwandererschicksale

Regisseur James Gray nimmt seine Zuschauer mit auf eine wunderbar authentisch inszenierte Zeitreise in die Achtziger, die in der gesinnungsimperialistischen Gegenwart für immer mehr Menschen zum unerreichbaren Sehnsuchtsort werden: eine Epoche, in der das rationale Konzept der nuklearen Abschreckung den Weltfrieden sicherte, die Republikaner einen Erdrutschsieg nach dem anderen einfuhren und die postdemokratischen Postulate linker Fanatiker milde belächelt wurden. Pauls Vater scheint zwar mehr Carters Demokraten zuzuneigen; das hindert ihn aber nicht, seinen Jüngsten schließlich auf eine republikanische Kaderschmiede zu schicken, in der Fred Trump, der Vater von Ex-Präsident Donald Trump, und seine Tochter Maryanne das Sagen haben. Den Schülern verkünden sie: „Ihr seid die Elite!“

Zur Familie gehört auch Pauls altersweiser Großvater Aaron (Anthony Hopkins), der zu dem Jungen einen besonderen Draht hat und ihm einschärft: „Vergiß nicht die Vergangenheit!“ Das hat gute Gründe: Pauls Urgroßmutter, eine Jüdin aus der Ukraine, mußte in den dunklen Kapiteln der Familiengeschichte miterleben, wie ihre Eltern ermordet wurden. Über Liverpool floh die Familie nach Amerika.

Der inzwischen 84jährige Hopkins, bekannt geworden als Psychopath in „Das Schweigen der Lämmer“ (1991), und der 14jährige Hauptdarsteller Banks Repeta verleihen „Zeiten des Umbruchs“ den Glanz großer Epen. Zumindest in Teilen ist der Film autobiographisch. Autor und Regisseur James Gray, geboren 1969 in New York, Großeltern aus der Ukraine, ist so etwas wie der kinematographische Chronist amerikanischer Einwandererschicksale. Sein erster Film „Little Odessa“ (1994) mit Maximilian Schell porträtierte das Milieu russisch-jüdischer Immigranten. „Little Odessa“ wie auch die darauf folgenden Regiearbeiten „The Yards“ (2000) und „Helden der Nacht“ (2007) könnte man Gangsterkrimis mit Migrationshintergrund nennen. Mit „The Immigrant“ (2013) verlegte der Filmemacher sich aufs Genre des Dramas.

Auch in „Zeiten des Umbruchs“ verzichtet Gray auf eine Krimihandlung, jedenfalls fast. Aus Frustration über die Eliteschule, auf die ihn seine Eltern nach dem letzten Streich strafversetzt haben, hecken Paul und Jonathan nämlich ein Verbrechen aus, das ihnen das nötige Kleingeld für eine Flucht nach Florida einbringen soll. Die Folgen der Missetat stellen die Freundschaft der beiden Taugenichtse auf eine harte Probe. Danach ist nichts mehr, wie es war.

In vielem ähnelt Grays Film dem seines Kollegen Kenneth Branagh, der seine Jugenderinnerungen jüngst in dem Film „Belfast“ (JF 9/22) verarbeitete und dafür mit dem Oscar belohnt wurde. Eine Ehrung, die auch James Gray zuteil werden könnte. Für die stimmungsvolle Reise in das goldene Zeitalter der Achtziger, auf der die Zuschauer ihn begleiten dürfen, wäre das auf jeden Fall verdient. Denn der Filmemacher stellt eine solche Nähe zu seinen Figuren her, daß man ihnen noch stundenlang dabei zusehen könnte, wie sie aufbrechen in das Jahrzehnt, das Amerika „great again“ machte.

Kinostart ist am 24. November 2022