© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Wer sind wir? – Wie ist die Lage? – Was sind unsere Interessen?
Die Hoheit über uns selbst
Thorsten Hinz

Die Ansprache des Bundespräsidenten am 28. Oktober war als „Rede an die Nation“ angekündigt worden. Als Rede also, die in unsicherer Zeit sich dem Grundsätzlichen widmet und Orientierung gibt. Die grundsätzlichen Fragen lauten: Wer sind wir? Wie ist die Lage? Was sind unsere deutschen Interessen? Was dürfen wir und was können wir erwarten? 

Die Inszenierung mißlang gründlich. Sie war dilettantisch konzipiert und besetzt. Unmittelbar vor seinem Auftritt besuchte Frank-Walter Steinmeier die Ukraine, deren Führung ihn mehrmals schwer brüskiert hatte. Ex-Botschafter Andrij Melnyk war ihn einer Weise angegangen, die nach diplomatischem Brauch zu seiner sofortigen Ausweisung hätte führen müssen. Doch keine scharfe Zurechtweisung erfolgte, weder aus dem Schloß Bellevue noch aus dem Kanzler-, noch dem Auswärtigen Amt. Ein Bundespräsident aber ist die Symbolfigur des staatlichen Ganzen. Wird er von Dritten zum Hanswurst gemacht und er läßt sich das gefallen, betrifft die Demütigung uns alle. Er wird ein Präsident zum Fremdschämen.

Die zeitnahe Terminierung der Ukraine-Reise zur Rede kalkulierte mit der Symbolik. Die unmittelbare Zeugenschaft aus dem kriegsgeschundenen Land sollte dem Redner die moralische Autorität für eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede verleihen. Doch die Rechnung ging nicht auf, weil Steinmeier es in der Vergangenheit unterlassen hatte, präsidiale Würde und Selbstbewußtsein gegenüber den Kiewer Unflätigkeiten zu behaupten. Seine Fahrt wirkte wie eine Büßerreise, von der er als Briefträger heimkehrte. Als er im Schloß Bellevue deklamierte: „Wir brauchen aktive, widerstandskräftige Bürgerinnen und Bürger“, stellte sich die Frage, welches „Wir“ denn bestimmt, wofür der Bürger aktiv und widerstandsfähig zu sein hat. 

Steinmeier verkündete am 28. Oktober: „Es kommen härtere Jahre, rauhe Jahre auf uns zu. Die Friedensdividende ist aufgezehrt. Es beginnt für Deutschland eine Epoche im Gegenwind.“ 

Seine Redenschreiber hatten Ingeborg Bachmanns berühmtes Gedicht „Die gestundete Zeit“ im Hinterkopf, das mit den Versen anhebt: „Es kommen härtere Tage./ Die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont.“ Es geht um eine aufgeschobene Forderung, um eine alte Rechnung, die beglichen werden muß. Mit düsteren Metaphern entwarf Bachmann eine Atmosphäre der Kälte („Denn die Eingeweide der Fische / sind kalt geworden im Wind.“), der Dunkelheit („Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.“), der Heimatlosigkeit, Unbehaustheit und des erzwungenen Aufbruchs („Sieh dich nicht um. Schnür deinen Schuh.“). Die Wiederholung am Schluß des Gedichts gerät zum Donnerwort: „Es kommen härtere Tage.“ 

Ein guter Redner benutzt Metaphern, um seine Aussageabsicht anschaulich zu machen. Damit sie nicht zum Selbstzweck geraten, rückübersetzt er sie wieder in – politische – Prosa. Steinmeier ist ein schlechter Redner. Er und seine Zuarbeiter haben weder die Dimension des Gedichts erfaßt noch sind sie dem politischen Geschehen gerecht geworden. Die Grund- wie die Detailfragen blieben unbeantwortet: Was hat uns in diese Lage gebracht? Wo war in den letzten Jahren die Für- und Vorsorgepflicht des Staates für seine Bürger? Wo ist das viele  Geld geblieben, das er ihnen über Steuern und Abgaben abgepreßt hat? Mit welcher Aussicht sollen die Menschen die geforderten Opfer auf sich nehmen? Welche unbekannten oder verdrängten Rechnungen werden ihnen gerade präsentiert? 

Mehrere Altpolitiker – die ihre Karriere entweder hinter sich bzw. deren Ende vor sich haben – hatten im Vorfeld deutlich gemacht, worauf es hinauslaufen soll. Der frühere Innenminister Gerhart Baum (FDP), der kürzlich seinen 90. Geburtstag begangen hat, erklärte bei Maischberger, die eigenen Erfahrungen mit Zerstörung und Not nach dem Zweiten Weltkrieg ließen ihn auf den bevorstehenden Krisenwinter ein Stück weit „lässiger“ blicken. Er forderte die junge Generation auf, „sich ein bißchen mehr anzupassen, den Lebensstil zu ändern, Erwartungen an den Wohlstand zu reduzieren“. Für ihn steht Höheres auf dem Spiel: „Jetzt im Winter kommt eine Bewährungsprobe unserer Demokratie – halten wir das durch?“ 

Der 80jährige Wolfgang Schäuble, der die Massenzuwanderung 2015 ff. zu Deutschlands „Rendezvous mit der Globalisierung“ erhoben hatte, schlug in dieselbe Kerbe. Ein oder zwei Pullover anziehen, Streichhölzer, Kerzen und eine Taschenlampe parat halten – so werden die kalte Wohnung und sogar der Blackout erträglich. „Darüber muß man nicht jammern, sondern man muß erkennen: Vieles ist nicht selbstverständlich“, sagte er der Bild-Zeitung. Der 74jährige Winfried Kretschmann von den Grünen, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, empfahl den Gebrauch von Waschlappen als Ersatz für die Dusche. Und Steinmeiers Amtsvorgänger Joachim Gauck, Jahrgang 1940, der – nicht ganz korrekt – der DDR-Bürgerrechtsbewegung zugerechnet wird, hatte auf die Aussicht, daß sein Schimpfwort „Dunkeldeutschland“ sich buchstäblich materialisiert, mit der lässigen Botschaft reagiert: „Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertragen, daß wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben.“ 

Der Jargon erinnert fatal an die „Kohlenklau“-Kampagne im Dritten Reich und an den Kampf gegen „Wattfraß“ in der DDR. 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 33 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hinterlassen die Alten den Jüngeren die Empfehlung, sich an der Not der Kriegs- und Nachkriegszeit zu orientieren, auf daß ihnen die Gegenwart und Zukunft in einem rosigeren Licht erscheine. Ein wahrhaft dürftiges politisches Erbe.

Der Versuch, es mit staatsmännischen Weihen zu versehen, mußte scheitern. Die Rede, der Auftritt, die öffentliche Figur des Präsidenten hinterließen den Endruck der Kontur-, ja Wesenlosigeit. Fünfmal nannte Steinmeier den Namen des russischen Präsidenten und gelangte zu dem Fazit: „Im Angesicht des Bösen reicht eben guter Wille nicht aus.“ So lautet die Flucht aus der Prosa in die Lyrik, aus der Politik in die schwarze Metaphysik.

Hinter dem subjektiven Versagen des Redners (und der politischen Klasse überhaupt) steht ein objektiver Sachverhalt. Die angekündigten „rauhen Jahre“, in denen Deutschland zu einem „Failed State“, zu einem gescheiterten Staat, zu werden droht, werden vor allem von der Energieknappheit bestimmt sein. Diese hat zwei unmittelbare Gründe, einen inneren und einen äußeren: Zum einen die sogenannte Energiewende, zum anderen die oktroyierten Rußland-Sanktionen, die Deutschland schwerer als alle anderen Boykott-Länder beschädigen.

Beide Maßnahmen lassen sich mit rationalen Motiven und nationalem Interesse nicht begründen. Sie hängen sie mit einem Faktum zusammen, das sich in der Wesenlosigkeit des obersten Sachwalters im Staate ausdrückt und das Wolfgang Schäuble 2011 so formuliert hatte: „Und wir in Deutschland sind seit dem 8. Mai 1945 zu keinem Zeitpunkt mehr voll souverän gewesen.“ Das konnte zunächst auch gar nicht anders sein und wurde mehrheitlich nicht als Manko empfunden. Eine kriegserschöpfte Bevölkerung gönnte sich eine Auszeit von der Weltgeschichte und nutzte sie, um einen nie dagewesenen Massenwohlstand zu erarbeiten. Heute werden die Jahre bis 1989 von den (West-)Deutschen als eine goldene Zeit erinnert. Es war eine Zeit, in der die Bundesrepublik „eine wirtschaftliche Einheit dar(stellte), die nach einer politischen Aufgabe suchte“, wie Henry Kissinger Ende der siebziger Jahre meinte.

Zehn Jahre später gewann man den Eindruck, daß die Bundesrepublik die politische Aufgabe inzwischen mehr scheute als suchte. Gewiß, die Wiedervereinigung wurde geräuschlos vollzogen, aber von den meisten eher hingenommen als willkommen geheißen. Die Aussicht, souverän zu werden und die volle Verantwortung für das eigene Wohl und Wehe zu tragen, weckte Furcht statt Entschlossenheit und Selbstvertrauen. Die Mentalität, die sich in der Bundesrepublik herausgebildet hatte, war ungeeignet, um die Souveränität als Chance zu be- und ergreifen. Diese sehr spezielle Mentalität läßt sich gut anhand der Rede erläutern, die der SPD-Politiker Carlo Schmid am 8. September 1948 im Parlamentarischen Rat gehalten hatte. 

Schmid warnte davor, daß der unter Aufsicht der Alliierten zu gründende Staat Gefahr laufe, ein bloßer „Organismus“, ein „Gebilde“ zu bleiben, das vordergründig zwar alle Staatsfunktionen erfülle, jedoch „im Grunde nichts anderes ist als die Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft; denn die trotz mangelnder Freiheit erfolgende Selbstorganisation setzt die Anerkennung der fremden Gewalt als übergeordneter und legitimierter Gewalt voraus“. Es fehle diesem Staat die Fähigkeit, „die Grenzen seiner Entscheidungsgewalt selber zu bestimmen (...) nämlich die Kompetenz der Kompetenzen im tieferen Sinne des Wortes, das heißt die letzte Hoheit über sich selbst und damit die Möglichkeit zu letzter Verantwortung“.

Dennoch entwickelte die internationale Position der Bundesrepublik sich aufgrund ihrer Unverzichtbarkeit im westlichen Bündnis zunächst vergleichsweise günstig. Die Verbündeten mußten ihre Interessen und Befindlichkeiten schonen, weil die Zurückweisung der sowjetischen Bedrohung nur mit aktiver Mitwirkung dieser territorial exponierten, wirtschaftlich hochpotenten und militärisch leistungsfähigen „Organisationsform“ möglich war. 

Mit dem Verschwinden des Sowjetblocks und der Wiedervereinigung wurde sie zum vordergründig normalen und scheinbar mächtigen Mitspieler – und Konkurrenten. Aus alter Gewohnheit aber scheute sie die Souveränität, die Entscheidungsgewalt über sich selbst und bemühte sich, sie rasch an andere Instanzen zu delegieren. Heute wird Politik mehr denn je als hypermoralische Erfüllung von Regeln und Vorgaben verstanden, die in Brüssel, Wa-

shington und andernorts formuliert werden. Die Bundesrepublik hat sich damit zum Selbstbedienungsladen und dummen August des Auslands gemacht. Zur Rechtfertigung gegenüber dem Wahlvolk werden Glaubenssätze wie „Bewährungsprobe unserer Demokratie“, Propagandaformeln wie „frieren für die Freiheit“ oder eben der Kampf gegen ein metaphysisches „Böses“ bemüht.

Wie wenig die Bundesrepublik „die letzte Hoheit über sich selbst“ besitzt, erschließt sich aus dem ikonischen Bild des begossenen Pudels, das Bundeskanzler Scholz im Februar im Weißen Haus abgab, als der US-Präsident ihm das Nord-Stream-Verbot erteilte. Der sichtbare Jammer bundesdeutscher Machtvergessenheit wurde in Deutschland kaum wahrgenommen. Die „Anerkennung der fremden Gewalt als übergeordneter und legitimierter Gewalt“, vor der Carlo Schmid warnte, ist über die Wiedervereinigung hinaus Teil seines Selbst geworden.

Machtvergessenheit heißt Realitätsverlust. Wem die Realität abhanden kommt, der ist offen für ideologisch motivierte Spinnereien wie die „Energiewende“. In der Folge erweist die „goldene“ sich als „gestundete Zeit“. Die Schuld, die nun abgezahlt wird, ist der 1990 ff. versäumte Ausbruch aus der Unmündigkeit und der Irrglaube, „die letzte Hoheit über sich selbst“ schadlos an andere delegieren zu können. 

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Ex-Botschafter Melnyk hat den Bundespräsidenten erneut desavouiert, indem er in einem Interview verriet, daß er bei seinen Attacken die ukrainische Führung und Präsident Selenskyj persönlich hinter sich wußte. „Ich hatte eine gewisse Carte blanche von ihm und spürte seine volle Rückendeckung. Ohne seine ständige Unterstützung hätte ich in Berlin gar nichts bewirken können.“ 

Daß der Bundespräsident für das Elend, das er repräsentiert, keine Worte findet, liegt in der Natur der Sache. Niemand kann aus seiner Haut.







Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Publizist und Buchautor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Fehlentwicklungen deutscher Außenpolitik („Das Brot der frühen Jahre“, JF 20/21).

Foto: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einer gemeinsamen Pressekonferenz während ihres Treffens in Kiew am 25. Oktober 2022