© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Hungern auf Befehl Stalins
Getreideexporte für die sowjetische Rüstung: Im November 1932 führten Beschlüsse des Politbüros zu grauenvollen Ausmaßen des „Holodomor“ in der Ukraine
Thomas Schäfer

Der erste Fünfjahresplan der Sowjet-union für den Zeitraum von 1928 bis 1933 sah die beschleunigte Industrialisierung des Landes vor – nicht zuletzt, um Waffen für die Rote Armee zu produzieren, welche perspektivisch in der Lage sein sollte, einen Angriffskrieg gegen den Westen zu führen. Allerdings waren die Rüstungsbetriebe der UdSSR zunächst außerstande, die für nötig erachteten 3.000 Flugzeuge, 3.500 Panzer und 12.700 Geschütze zu bauen. Deshalb setzten Stalin und dessen Gefolgsleute auf den massenhaften Import von Maschinen oder auch gleich ganzen Industrieanlagen aus Deutschland, den USA, Großbritannien, Schweden und Italien. 

Dafür wendeten sie 1930/31 Devisen im Gegenwert von über einer Milliarde Rubel auf. Dieses Geld wiederum stammte in allererster Linie aus dem Export von Weizen, Roggen, Gerste, Hafer und Mais, der auf Geheiß Stalins „mit allen Kräften forciert werden“ mußte. Also führte die Sowjet-union bereits Ende der zwanziger Jahre jeweils zwischen zwei und fünf Millionen Tonnen Getreide pro Jahr aus. Gleichzeitig befahl der Kreml aber auch, Reserven für den Kriegsfall anzulegen: Die lagen zum 1. Januar 1932 bereits bei zwei Millionen Tonnen.

Vor diesem Hintergrund herrschte bald extreme Knappheit an Getreide, die freilich aber auch noch weitere Ursachen hatte. So führte die Zwangskollektivierung zu einer massiven Fluchtbewegung vom Land in die Städte, welche das Politbüro der Kommunistischen Partei schließlich am 15. November 1932 mit der Einführung eines Paßsystems stoppte, das die Bauern wieder wie zur Zeit der Zaren an ihre Scholle band. Dennoch fehlten nun schon zwölf Millionen Beschäftigte auf dem Lande, und bei den Verbliebenen sank die Arbeitsmoral ins Bodenlose. Dazu kamen zwei Mißernten und sinkende Erträge aufgrund fehlender Zugtiere beziehungsweise Traktoren. Das galt auch und gerade für die Ukraine, die „Kornkammer der Sowjetunion“. Diese lieferte bis Ende 1931 nur 78,8 Prozent der erwarteten Getreidemenge. 

Daraufhin entsandte Stalin den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, Wjatscheslaw Molotow, nach Charkow, wo dieser am 28. Dezember 1931 eintraf, um die Parteiführung der Unionsrepublik auf eine Eintreibungskampagne – genannt „Kampf ums Getreide“ – einzuschwören. Dabei äußerte Molotow unter anderem: „Wenn wir jetzt nicht unverzüglich Getreide beschaffen, dann zerstören wir unsere Armee, und wenn der Feind uns überfällt, werden wir wehrlos. (...) Wenn wir Getreide nach dem Minimalplan nicht haben werden, dann zerstören wir unser Werk.“ Daraufhin schwärmten Anfang 1932 sechs Rayon-Gruppen mit jeweils 300 führenden Parteifunktionären aus, deren Handlanger in den Dörfern bis zu 75 Prozent des noch vorgefundenen Getreides beschlagnahmten. Dadurch gab es bereits im März 1932 die ersten Hungertoten in der Ukraine, wie die Geheimpolizei OGPU meldete und somit der Parteiführung klar wurde.

Konfiszierung des Saatgetreides stellte die Weichen auf Hungersnot 

Aber das war erst der Anfang, denn die Eintreiber konfiszierten in vielen Fällen auch das Saatgetreide für die Frühjahrsbestellung 1932, weswegen der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU), Stanislaw Kossior, das Moskauer Politbüro schließlich auf nachgerade panische Weise um „Saatdarlehen“ und später dann auch um „ausnahmsweise Ernährungshilfen“ bat, die indes beide viel zu niedrig ausfielen. Dennoch konstatierte Stalin, der Kossior unverblümt als „Weichling“ bezeichnete, am 15. Juni 1932: „Meiner Meinung nach hat die Ukraine mehr bekommen, als ihr zusteht. Noch mehr Getreide zu geben, ist nutzlos, und woher auch.“

Derweil nahm die Zahl der Hungertoten in der Ukraine kontinuierlich zu, was mittlerweile selbst eingefleischte Kommunisten zum Widerstand oder Parteiaustritt veranlaßte. Der Kommissar des Rayons Melitopol schoß sich sogar in die Hand, um nicht mehr an den Beschlagnahmeaktionen teilnehmen zu müssen – was ihm zehn Jahre Straflager einbrachte.

Im August 1932 war die Lage dann dermaßen eskaliert, daß das Politbüro widerstrebend zustimmte, die Getreideabgabequote der Ukraine um 50 Prozent zu reduzieren. Gleichzeitig blies der Kreml aber auch zum Angriff und erließ eine Verordnung, der zufolge jeder erschossen werden konnte, der Nahrungsmittel versteckte, um zu überleben. Und die willfährige Presse, wie das ukrainische Blatt Kolchosaktivist, flankierte das Ganze mit Artikeln, in denen den „jämmerlichen Heulern“ in den Dörfern vorgeworfen wurde, absichtlich zu verhungern, obwohl sie Korn hätten – nur um Unzufriedenheit unter den Bauern zu provozieren … 

Darüber hinaus tönte Stalin am 11. August, in der Führung der Kommunistischen Partei der Ukraine gebe es zahlreiche „verrottete Elemente“, welche den ukrainischen Nationalismus schürten und gegen Moskau intrigierten. Daraus zog er den Schluß: „Wenn wir uns jetzt nicht daran machen, die Lage in der Ukraine in Ordnung zu bringen, dann können wir die Ukraine verlieren.“ Also wurde eine von Molotow geleitete Sonderkommission in Marsch gesetzt, welche für die Inhaftierung Tausender lokaler Kommunisten unter dem Vorwurf der Sabotage sorgte und Massendeportationen von „Kulaken“ anordnete.

Doch damit nicht genug: Im November 1932 traf das Zentralkomitee der KPU auf Druck des Stalin-Beauftragten Molotow zudem noch zwei weitreichende Entscheidungen, welche dazu führten, daß die Hungerkatastrophe in der Ukraine – genannt „Holodomor“ (von „Holod“ für „Hunger“ und „Mor“ für „Massensterben“) – nun nachgerade apokalyptische Ausmaße annahm: Zum ersten verhängte es als „Maßnahme zur Stärkung der Brotbeschaffung“ extrem harte „Naturalstrafen“ gegen jene 90 Prozent der Bauern, die das Abgabesoll nicht erfüllten, was im Endeffekt zur Konfiszierung von all deren Nahrungsmitteln bis hin zu Rüben oder getrockneten Pilzen führte. Und zum zweiten wurden Schwarze Listen erstellt, auf denen sich die Dörfer beziehungsweise Kolchosen wiederfanden, welche mit der Getreideablieferung im Rückstand waren. Die selbigen erhielten keinerlei Zuteilungen von lebensnotwendigen Gütern wie Seife, Streichhölzern und Petroleum mehr. Darüber hinaus verfügten Stalin und Molotow im Januar 1933 noch die komplette Abriegelung der Ukraine, um eine Flucht aus derselben unmöglich zu machen.

Die Folgen dieser Maßnahmen waren ebenso katastrophal wie vorhersehbar und im übrigen auch der Führung in Moskau wohlbekannt, weil die OGPU unablässig Berichte über die „Versorgungsnotlage“ ablieferte. Beispielsweise meldete die Geheimpolizei am 23. Juni 1933, inzwischen hungere die Hälfte der Bevölkerung in der Ukraine, wobei die Dörfer deutlich schwerer betroffen seien als die Städte. Deshalb setzten die verzweifelten Bauern ihre Kinder in den Städten aus – hoffend, daß sie dort vielleicht überlebten. Dabei habe man im Mai 1933 allein in den Straßen von Charkow 992 Leichen von Verhungerten aufgelesen. Gleichzeitig – so die OGPU – drohe den Kindern aber noch eine andere Gefahr, nämlich getötet und aufgegessen zu werden. Den OGPU-Unterlagen zufolge gab es von Februar bis Mai 1933 mehr als 500 Fälle von Kannibalismus. Dennoch exportierte die Sowjetunion damals immer noch 2,8 Millionen Tonnen Getreide. 

Der zeitliche Höhepunkt der mutwillig herbeigeführten Hungersnot in der Ukraine lag in den Monaten Juni bis September 1933, in denen einige westliche Sympathisanten des Sowjetsystems versuchten, die mittlerweile alarmierte Weltöffentlichkeit über das Geschehen in Stalins Reich hinwegzutäuschen. So reiste der linksbürgerliche französische Ex-Premierminister Édouard Herriot in die leidende Unionsrepublik und verstieg sich nachher zu Äußerungen wie: „Ich versichere Ihnen, daß ich die Ukraine wie einen schönen, ergiebigen Garten erlebt habe, mit herrlichen Ernten (…) Ich habe dort (…) nur Wohlstand gesehen.“

Russen demontierten Holodomor-Denkmal in Mariupol 2022

Infolge des Holodomor starben vermutlich zwischen drei und sieben Millionen Menschen – vollständige Statistiken existieren nicht oder liegen unzugänglich in russischen Archiven verborgen. Dieses Massenverbrechen gegenüber der eigenen Bevölkerung, welches später nur noch von den monströsen Untaten des chinesischen Kommunistenführers Mao Tsetung übertroffen wurde, gilt seit 1953 verbreitet als „klassischer sowjetischer Genozid“ an den Ukrainern, während die russische Seite bis heute darauf verweist, daß der Hunger 1932/33 aufgrund unglücklicher Umstände auch in anderen Regionen der UdSSR gewütet habe, nämlich in Kasachstan, dem Nordkaukasus und den Schwarzerdegebieten Südrußlands, weswegen man von keiner gezielten Dezimierung speziell der ukrainischen Bevölkerung sprechen könne. Zumal einige der fanatischsten Aktivisten damals Ukrainer gewesen seien. Und tatsächlich gab es keinen brutaleren Vor-Ort-Vollstrecker der Befehle aus Moskau als Wsewolod Balyzkyj, den allmächtigen Kopf der OGPU in der Ukraine, der sogar auf Hungerflüchtlinge schießen ließ.

Dennoch wirkte der Holodomor nach dem Zerfall der Sowjetunion konstituierend auf das neue ukrainische Nationalgefühl und trübte die Beziehungen zu Moskau nachhaltig. Deshalb demontierten die russischen Besatzungsbehörden im Oktober 2022 das Holodomor-Denkmal in Mariupol als angebliches „Symbol politischer Desinformation“.