© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Treibstoff der Systeme
Henning Türk hat eine spannende Studie über Energiefragen im geteilten Deutschland von 1945 bis 1990 verfaßt
Konrad Faber

Henning Türk ist ein habilitierter Historiker und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam tätig. In einer dünnen, doch gewichtigen Monographie (erschienen als Band 3 der Tagungsreihe „Die geteilte Nation. Deutsch-deutsche Geschichte 1945–1990“) widmet er sich einem nicht nur aus wirtschaftsgeschichtlicher Sicht spannenden Thema, nämlich der Rohstoffgrundlage der Energieversorgung im geteilten Deutschland von 1945 bis 1990. Im Dritten Reich setzte man ab 1933 aus wehrstrategischem Interesse bei der Energieversorgung auf Autarkie und somit auf die umfassende Nutzung der reichen heimischen Steinkohlenvorräte, inklusive der Nutzung von Braunkohle und der geringen heimischen Erdöl- und Erdgasvorräte. Die Bundesrepublik setzte nach 1945 ebenfalls zunächst auf die Nutzung der heimischen Steinkohle, allerdings auf ausdrückliches Betreiben der Besatzungsmächte nunmehr marktwirtschaftlich und nicht mehr planwirtschaftlich orientiert. 

Schwerer hatte es dagegen auf demselben Gebiet die künftige DDR. Sie war nämlich sowohl von der Kohleversorgung aus den schlesischen Kohlegebieten wie auch aus dem Ruhrgebiet abgeschnitten, mußte folglich bei der Energieversorgung voll auf die heimische Braunkohle setzen, ungeachtet aller dabei auftretenden Schwierigkeiten und vor allem der Umweltprobleme. Zudem wurde der DDR von der sowjetischen Besatzungsmacht ein sozialistisches, strikt planwirtschaftlich ausgerichtetes Wirtschaftsmodell übergestülpt. In Erkenntnis der Tatsache, daß man mit der Kohle allein den stark anwachsenden künftigen Energiebedarf nicht mehr befriedigen könne, setzten beide deutsche Staaten bereits frühzeitig auf Erdöl und Erdgas, später auch auf die Kernenergie. Aus blanker Energie-not kam die DDR hier sogar der Bundesrepublik zuvor und errichtete mit dem ab Dezember 1957 im Betrieb befindlichen, kleinen Zwei-Megawatt-Forschungsreaktor von Rossendorf bei Dresden das erste Kernkraftwerk in Deutschland noch vor dem im Februar 1958 übergebenen „Atom-Ei“ von Garching bei München. 

Doch befand sich die DDR sowohl bei der Erdölversorgung wie beim Kernkraftwerksbau immer am Gängelband des „Großen Bruders“ Sowjetunion, während in der Bundesrepublik sich die künftige Energieversorgung allein an marktwirtschaftlichen Grundsätzen orientierte. Fast völlig scheint dabei aus dem heutigen Bewußtsein der Umstand verschwunden zu sein, daß seinerzeit in den siebziger Jahren ausgerechnet die SPD der Schrittmacher bei der Nutzung der Kernkraft in der Bundesrepublik war. Gerade die Frage der Energieversorgung scheint später einer der wirtschaftlichen Sargnägel der DDR geworden zu sein, obwohl auch in der Bundesrepublik, sachlich eigentlich unbegründet, die Nutzung der Kernkraft nach einer anfänglichen „Atomeuphorie“ einer zunehmenden gesellschaftlichen Ächtung unterlag. 

Pipeline-Systeme versorgten sowohl Bundesrepublik als auch die DDR

Wendebedingt „stieg“ die vormalige DDR beachtlich früher als die alten Bundesländer, nämlich bereits im Jahr 1990 aus der Kernkraftnutzung aus. Hochinteressant sind auch die Angaben von Türk über die Entstehung und die Nutzung der gewaltigen Pipeline-Systeme, mit welchen sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die DDR ihre Energieversorgung mit Erdöl und Erdgas aus dem Ausland sichern wollten und auch lange Jahre konnten. Spannend auch deswegen, weil aktuell, ohne Beachtung des wirtschaftlichen Eigeninteresses, die Bundesrepublik Deutschland aus „Solidarität mit der Ukraine“, und um Rußland durch wirtschaftliche Sanktionen zu „bestrafen“, sich selbst dieser jahrzehntelang sicheren Energieversorgung zu berauben beginnt. 

Im wiedervereinigten Deutschland steht man parallel dazu vor der gewaltigen Aufgabe des Ausstieges aus der Kohlewirtschaft und dem Übergang zur massenhaften Nutzung regenerativer Energien. Man setzt neben Wind- und Solarenergie vor allem auf den „grünen Wasserstoff“. Alles das hat Hennig Türk in seinem Buch gut beschrieben und mit Fakten unterlegt. Die zwei Kritikpunkte des Rezensenten wären, daß Türk einerseits die energiebedingten, massiven wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR zu unterschätzen scheint, welche dort ab 1945/46 nach Abtrennung der alten Steinkohlelieferketten aus Schlesien und dem Ruhrgebiet bestanden. Andererseits kann sich Türk partout nicht dazu aufraffen, die Blindheit der derzeit Regierenden wegen der in Deutschland künftig drohenden Energielücke zu geißeln, falls das angespannte Hoffen auf regenerative Energien und den „grünen Wasserstoff“ scheitern sollte. Vom Problem der auch damit nicht sichergestellten Grundlastversorgung ganz zu schweigen. 

Henning Türk: Treibstoff der Systeme. Kohle, Erdöl und Atomkraft im geteilten Deutschland. Bebra Verlag, Berlin-Brandenburg 2021, gebunden, 200 Seiten, Abbildungen, 22 Euro