© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

„Schlimmer als der Untergang der DDR“
Interview: Vor dreißig Jahren hielt Cora Stephan ihre Eindrücke vom Ende des Arbeiter-und-Bauern-Staates fest. In nun unter dem Titel „Im Drüben fischen“ wieder erschienenen Texten porträtierte sie die damalige Abwicklung einer Gesellschaft. Parallelen zum heutigen Deutschland drängen sich auf
Moritz Schwarz

Frau Dr. Stephan, in Ihrem Essay „Im Drüben fischen“ schreiben Sie über Ihre Arbeit in Schwerin am Ende der DDR: „Es war ebenso faszinierend wie furchtbar, der Auflösung eines Gemeinwesens zuzuschauen.“ –Überkommt Sie dieses Gefühl heute auch manchmal?

Cora Stephan: Ja und nein. Den Untergang der DDR habe ich begrüßt – zumal dieser Menschenversuch sich ja schon seit den siebziger Jahren nur noch mit Geld aus der Bundesrepublik sowie aus der Veräußerung von Antiquitäten und Menschen über Wasser hielt. Was heute mit Deutschland geschieht, fasziniert nicht, es ist nur noch furchtbar, zumal es nicht, wie damals für die DDR, eine Alternative gibt. Es ist, als ob sich die DDR nun im ganzen Land parasitär breitgemacht hätte, mit den bekannten Folgen für Freiheit und Wohlstand.

Was an unserer Gegenwart erinnert Sie an das, was Sie in Ihrem Essay über die Zeit damals schreiben? 

Stephan: Mir kommt es so vor, als ob ich wieder der Auflösung eines Gemeinwesens zusehen müßte. Unser einst so erfolgreiches Land wird von ideologisch Verblendeten unbeirrt an die Wand gefahren – und man schaut einigermaßen hilflos zu. Ohne das dysfunktionale Konzept einer „Energiewende“ hätten wir keine Energiekrise – mit unermeßlichen Schäden für die Bevölkerung und die Industrie. Daß Wind und Sonne kein Industrieland versorgen können, wurde jahrzehntelang durch das günstig und zuverlässig gelieferte Gas aus Rußland verdeckt. Aus opportunistischen Gründen – es sollte eine Landtagswahl gewonnen werden – verzichtete die damalige CDU-Kanzlerin 2011 auf den Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Kernenergie. Deutschland war in dieser Technologie einst führend. Und heute dürfen aus Rücksicht auf die Grünen nur noch die drei noch laufenden KKW weiterarbeiten, und das nur bis April 2023, was schon absurd genug ist – die drei funktionsfähigen, jedoch ausgeschalteten KKW dürfen aber nicht wieder ans Netz gehen. Und das mitten in einer monströsen Energiekrise. Übrigens, darin unterschied sich die DDR vorteilhaft von der Bundesrepublik: In Volkes Hand, so hieß es, sei die Nutzung von Kernenergie unbedenklich. Der sehenden Auges herbeigeführte Niedergang unseres Landes ist weit schlimmer als der Untergang der DDR. 

Warum schlimmer? 

Stephan: Die DDR hatte immerhin die Bundesrepublik als Auffangoption. Deutschland aber hat nichts dergleichen – die europäischen Nachbarn denken nicht daran, uns aus dem selbstverursachten Schlamassel herauszuholen. 

Rechnen Sie mit einem rechtzeitigen Erwachen, etwa der Intellektuellen, oder glauben Sie, das geht so weiter bis zum „harten Aufschlag“?

Stephan: Trostlos das Versagen der Medien mitsamt den öffentlichkeitswirksamen Intellektuellen. Kollektiv geht man der grünen Ideologie auf den Leim. Auch bei der CDU, nun die größte Oppositionspartei, rennt man mit Frauenquote und „Klimaschutz“ dem Zeitgeist hinterher, als ob man auch dort die letzten Reste von Verstand aufgegeben hätte. An die höhere Weisheit von „Intellektuellen“ habe ich im übrigen nie geglaubt.

In Ihrem Essay schildern Sie, wie vor und sogar noch während des Endes der DDR viele deutsche Intellektuelle in ihr das bessere Deutschland sahen. Warum, weil dort das Volk nicht störte?

Stephan: Gut möglich! In meinem Roman „Margos Töchter“ habe ich geradezu lustvoll das Erstaunen einer „Kundschafterin des Friedens“, wie man die Stasi-Agenten nannte, beschrieben, die aus der DDR in den Westen geschleust wurden. Dort traf sie aber keineswegs wie erwartet überwiegend kalte Krieger, sondern insbesondere bei Intellektuellen und Journalisten eine Verniedlichung und Verharmlosung der DDR als „besseres Deutschland“. Die liebten die DDR mehr als die meisten, die in der DDR leben mußten. Sie sei besser – weil „antifaschistisch“. Und ausgerechnet dieses Propagandagespenst wird heute von unserer Regierung wieder hervorgeholt – allen voran die Bundesinnenministerin. Im Namen des Antifaschismus sind plötzlich alle als „rechts“ einzustufen und damit zu verfolgen, die regierungskritisch auftreten. Woran erinnert mich das nur? 

Na, eben an die DDR?

Stephan: Leider ja. Eines allerdings muß man der DDR zugute halten: Ein paar Menschen aus den Ländern, die einst dazugehörten, haben oft ein überaus feines Gehör für „Gutsprech“, für ideologisches Framing und Verbrämen. Solche Zeitgenossen – etwa Vera Lengsfeld oder Ralf Schuler und Monika Maron oder Alexander Wendt – erinnern den Westen immer wieder daran, womit er einst für sich geworben hat: mit Freiheit und der Garantie von Grundrechten. 

Nun ist also für Sie die (ehemalige) DDR das bessere Deutschland? 

Stephan: Die DDR das bessere Deutschland, weil eine Diktatur einigen Menschen beigebracht hat, ein feines Sensorium für die Einschränkung von Freiheit zu entwickeln? Erwischt! Aber der Preis dafür ist vielleicht ein wenig hoch … Andererseits stimmt es ja: Heute sitzt die Opposition im Osten, während viele im Westen dieses Gespür nicht zu haben scheinen – sie sind Freiheit gewohnt, sie glauben nicht, dafür kämpfen zu müssen. 

Sie erzählen, wie Sie 1990 Regine Marquardt vom oppositionellen Neuen Forum kennenlernten, die nicht wie Sie, der „Wessi“, einfach aussprach, was sie dachte, sondern immer erst mal zögerte und sich langsam vortastete – was Sie, wie Sie schreiben, damals gar nicht verstanden hätten. Verstehen Sie es heute besser? 

Stephan: Ich weiß nicht, ob sie nicht einfach nur deshalb zögerte, weil sie nicht so vorlaut war wie ich … Plausibler ist natürlich, daß sie es eben gewohnt war, vorsichtig zu sein. Wie schnell war man in der DDR doch ein „Republikfeind“ – und das hatte Konsequenzen. Die heutige linke Cancel Culture erinnert durchaus an die Sprechverbote in der DDR. Allerdings verläuft das bei uns ein wenig subtiler: Man wird nicht gleich vom Studium ausgeschlossen, wenn man etwas „schwurbelt“, was dem aktuellen Mainstream mißfällt. Aber ein sozialer Tod ist auch nicht viel schöner, und davon haben wir ja in letzter Zeit einiges erlebt.

Zum Beispiel? 

Stephan: Auftritts- und Berufsverbote etwa, weil man die Panikpandemie nicht unterstützte. „Corona“ war das Übungsfeld für autoritäre Wünsche. Die Innenministerin von der SPD ist ein schönes Beispiel. Allein die Schaffung eines Aufgabenbereichs des Verfassungsschutzes, mit dem eine „verfassungsschutzrelevante Delegitimation des Staates“ verfolgt werden soll, ist verräterisch. Der Verfassungsschutz hat die Verfassung zu schützen, nicht den Staat. Zugleich wird versucht, das aufsässige Volk mit Kamellewerfen stillzuhalten, mit Wumms, Doppel- und Dreifachwumms. Dabei ist uns längst das Geld ausgegangen. Demnächst wird Deutschland wohl seine Kunstwerke und Antiquitäten verkaufen müssen, damit wenigstens die neue Regierungshofburg finanziert werden kann. Hilfsbereite Brüder und Schwestern von drüben gibt es ja nicht.

Den Deutschen attestieren Sie in Ihrem Essay, ihre Obrigkeitshörigkeit in vierzig Jahren Bundesrepublik abgelegt zu haben. Gilt diese Einschätzung heute immer noch? 

Stephan: Damals habe ich das so gesehen. Ist ja mehr als dreißig Jahre her. Damals habe ich mich wohlgefühlt in diesem Land, und das Gefühl hielt an, bis Angela Merkel ihre einsamen Entscheidungen für „alternativlos“ erklärte. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, daß die Bundesrepublik je ein Land der Freiheitsfreunde war. Wie schnell das plötzlich geht, die Anpasserei und das Duckmäuserische! Wie schnell sich die Menschen auf die Einschränkung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit einstellen, wenn man ihnen nur genug Angst einjagt! Wie weit verbreitet die Staatsgläubigkeit und -abhängigkeit ist! Wie bereitwillig man die intolerante Woke-Kultur und die Genderei toleriert, obwohl eine satte Mehrheit vom Gendern nichts hält! Wie sehr im übrigen die Medien regierungsfromm geworden sind! Regierungskritik gehörte einst zur linken DNS. Heute ist sie „rechts“.

Also haben sich nun Medien, die Politik und das Volk seit 1990 völlig verändert? Oder waren diese im Grunde schon damals so – und Sie haben sich mit Ihrer damaligen Sicht auf sie getäuscht? 

Stephan: Ich nehme ein wenig zurück, was ich oben gesagt habe – eigentlich mag ich das gar nicht, das Deutschen-Bashing. Man kann das alles auch so verstehen: Wir haben den Dreißigjährigen Krieg im Gepäck, die Katastrophen zweier Weltkriege. Das traumatisiert. Und erst recht das Wissen um Mord- und Greueltaten. Der permanente „Kampf gegen rechts“, der sich als Kampf gegen „Nazis“ geriert, schüchtert ein – und das soll er ja auch. Vielleicht sind die Bürger mit DDR-Hintergrund in dieser Hinsicht unbelasteter: In der DDR gab es die Vorstellung einer Kollektivschuld nicht, die Verbrecher, behauptete man, säßen ja in der BRD. Eine feine Lösung eines Dilemmas. In der DDR büßte man materiell für das Dritte Reich, im Westen mental.

Die Lektüre Ihres Textes ruft auch in Erinnerung, daß nach der Wiedervereinigung, die Gut/böse-Rollen genau umgekehrt zu heute – Stichwort „Dunkeldeutschland“ – verteilt waren: Damals standen in den Debatten für das Üble meist die „Wessis“ – arrogant, materialistisch, entfremdet – und die „Ossis“ – unverdorben, gutgläubig, Mensch geblieben – für das Gute. Was hat es damit und mit der völligen Umkehrung dieses Bildes auf sich? 

Stephan: Ich glaube, es gab beides. Wer den Westen verdammte, schimpfte gemeinhin auch auf die Ossis, die sich dem Kapitalismus für das bißchen Konsum in die Arme geworfen hätten. Und die Sache mit der angeblich größeren „menschlichen Wärme“ in der DDR entpuppte sich schnell als heiße Luft. Ist doch klar, daß man in einer Tauschgesellschaft darauf aus war, sich mit allen, von denen man etwas wollte, gut zu stellen. Und als das nicht mehr nötig war, entstand auch eine Freiheit in den Beziehungen. Größere Distanz und eine gewisse Kühle sind nicht immer verkehrt.

Damals war viel von der Spaltung der Gesellschaft, eben in „Ossis“ und „Wessis“, die Rede. Das ist heute weitgehend verschwunden. Dafür sprechen wir seit ein paar Jahren über eine andere Kluft.

Stephan: Ach ja, „Versöhnen statt Spalten“. Ein alter Schlager. Wer Meinungsverschiedenheiten und Widerspruch als Spaltung verdammt, wünscht sich offenbar Konsens. Wie tödlich das sein kann, sehen wir an einem ermatteten Bundestag, der offenbar längst an seiner Übergröße erstickt ist. Spaltung geht doch eher von jenen aus, die ausgrenzen wollen, die keinen Widerspruch dulden. Der ist aber das Lebenselixier in einem freiheitlichen Rechtsstaat. Desgleichen Unterschiede – dazu gehört auch der zwischen Ost und West. Weder ist das eine dunkler noch das andere lichter. Skandalisierung und Zuspitzung gehört nun allerdings zum Geschäft der Medien. Das wäre vielleicht nicht weiter schlimm, wenn es mittlerweile nicht so einseitig wäre. Corona- und Klimaleugner, Verschwörungsgläubige und Schwurbler, Ungeimpfte als todbringende Pandemietreiber – schon erstaunlich, wieviel Haß und Hetze so möglich ist bei den „Guten“, die solches doch eigentlich bekämpfen wollen. Ernsthafte Auseinandersetzung sieht anders aus. Ich warte immer noch auf die Bitte um Verzeihung.

War das jetzt ein Plädoyer für Spaltung oder doch für Versöhnung? 

Stephan: Das landläufige „Versöhnungs“-Gerede ist doch moralinsaurer Kitsch und nähert sich verdächtig dem Wunsch nach Volksgemeinschaft. Man muß nicht alle Unterschiede und Widersprüche zukleistern. Und wenn mit der Aufforderung zur Versöhnung gemeint ist, nun endlich die Stasi-Akten zu entsorgen, werde ich mißtrauisch. Wer soll denn da mit wem versöhnt werden? Die Ausspionierten mit den Spionen? Oder fürchtet man womöglich gar im Westen die Aufdeckung all der vielen Einflußagenten, die uns die SED geschickt hat? Westspione in der DDR wurden inhaftiert, Einflußagenten im Westen nur selten entdeckt. Was alles andere betrifft: Vor der Versöhnung müßte die Auseinandersetzung stehen – siehe oben.

Im Nachwort zu Ihrem Essay stellen Sie zwei Szenarien in Aussicht: Unsere politische Kultur könnte sich im Sinne einer „Renaissance der moralischen Begrifflichkeiten“ entwickeln oder aber, im Gegenzug dazu, zu einer „Renaissance der genuin politischen Begriffsbildung“. Was verbirgt sich hinter den jeweiligen Konzepten und was wäre jeweils die Folge – speziell in Hinblick auf die von Ihnen festgestellten totalitären Tendenzen heute?

Stephan: Wir sind doch schon längst im moralisierenden Taumel angelangt. Gefühlsmäßige Übereinstimmung, Liebe und Nähe und Betroffenheit sollen walten, bis in die Kapitänsbinde der Fußballnationalmannschaft – wobei ja schon „national“ getilgt gehört. Dabei ist ein Nationalstaat ein bewährter Rahmen für einen Zusammenhalt, der nicht auf Identität setzen muß. Gerade in der Außenpolitik aber käme es darauf an, daß sich das Land weniger über seine Moral als über seine geopolitische Situation und vor allem seine Interessen vergewissert. Der hochtönende Bellizismus einer Annalena Baerbock spiegelt lediglich einen für die Lage blinden Pazifismus: Er ist in erschütterndem Maße unpolitisch. 






Dr. Cora Stephan, verfaßte Sachbücher, darunter „Angela Merkel. Ein Irrtum“ (2011) und „Lob des Normalen. Vom Glück des Bewährten“ (2021) sowie etliche meist gelobte, teils preisgekrönte Romane – zuletzt „Margos Töchter“ (2020). Zudem schrieb sie Hörspiele, Kolumnen, Kritiken und Essays unter anderem fürs Radio, die Zeit, Welt oder den Spiegel. Das nun in der Reihe „Exil“ in der Edition Buchhaus Loschwitz erschienene Bändchen „Im Drüben fischen. Nachrichten von West nach Ost“ versammelt mehrere bereits Anfang der neunziger Jahre publizierte Texte aus ihrer Feder. Im Februar erscheint Stephans neuer Roman „Über alle Gräben hinweg. Roman einer Freundschaft“ im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Geboren wurde die Politologin 1951 in Bad Rothenfelde.

Foto: Schriftstellerin Cora Stephan: „Was heute geschieht, ist nur noch furchtbar“