© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Ramsan Kadyrow ist vom Provinzfürsten zu einem der mächtigsten Männer um Putin aufgestiegen. Wird er zur Gefahr?
Der Statthalter
Thomas Fasbender

Der inhaftierte Oppositionelle Alexej Nawalny und der Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow sind derzeit die einzigen russischen Politiker von Belang, deren öffentliche Äußerungen der Kreml nicht wirklich unter Kontrolle hat. Nawalny fordert in westlichen Medien ein parlamentarisches Post-Putin-Rußland, Kadyrow kanzelt die glücklose Militärführung ab. Böse Zungen behaupten, Putin sei von Kadyrow inzwischen abhängiger als umgekehrt. Erst im Oktober hat der Präsident seinen Statthalter in Tschetschenien zum Generaloberst der Armee ernannt. Manche warnen explizit davor, dessen Einfluß in Moskau zu unterschätzen. Gerüchte von tschetschenischen Waffenlagern machen die Runde, von Prätorianergarden zum Schutz des russischen Präsidenten. Die tschetschenische Präsenz in den Lobbys einiger Luxushotels sticht ins Auge. Sollte der kaukasische Führer seine Loyalität eines schönen Tages aufkündigen – die russische Armee in ihrer derzeitigen Verfassung wäre einem dritten Tschetschenienkrieg nicht gewachsen.

Der 1976 geborene Ramsan ist der jüngere Sohn des im Mai 2004 bei einem Bombenattentat in Grosny ums Leben gekommenen tschetschenischen Präsidenten Achmat Kadyrow. Im Ersten Tschetschenienkrieg 1994–96 kämpften Vater und Sohn noch mit den Separatisten, wechselten aber 1999 auf die Seite der Russischen Föderation. Nach dem Aufstieg des Vaters an die Spitze der Republik im Jahr 2000 baut Ramsan dessen Leibgarde auf, die bald berüchtigten „Kadyrowzi“, einen verschworenen Männerbund, Heimstatt vieler ehemaliger Aufständischer. In jener Zeit soll Ramsan mindestens fünf Mordanschläge überlebt haben.

Putin hat eine Schlange an seinem Busen genährt. Noch ist unklar, wer von beiden den anderen überleben wird.

Am Morgen nach dem Attentat auf seinen Vater, buchstäblich wie Kai aus der Kiste, taucht der 27jährige Junior, unbeholfen und völlig unangemessen im Trainingsanzug, vor TV-Kameras in Putins Arbeitszimmer auf. Binnen weniger Stunden wurde er zum Vizeregierungschef ernannt – der Plan B für die dynastische Zukunft Tschetscheniens lag offensichtlich in der Schublade. Seit 2007 amtiert er als Republikchef.

Kadyrow ist der Schlußstein in Putins Philosophie zur Befriedung des historisch schwierigsten nordkaukasischen Territoriums. Im Austausch für die Unterdrückung der Dschihadisten (und Separatisten) genießt Tschetschenien einen Grad an De-facto-Autonomie, der an Zentralasien während der Zarenzeit erinnert. Rußland ist hier weniger Souverän als Suzerän – es ist ein lehensähnliches Verhältnis wie im europäischen Mittelalter. Die russischen Gesetze gelten weithin nur pro forma. In der Teilrepublik selbst dominiert die archaische Tradition mit ihren Normen, Sitten und Gebräuchen. 

Ramsan Kadyrow lebt derweil die zeitgenössische Version eines Kleinsultans aus dem 19. Jahrhundert: mindestens drei Frauen und mindestens ein Dutzend Kinder, Luxuslimousinen, ein Rennstall mit über hundert Pferden, ein Airbus A319, Residenzen in Dubai, Moskau und auf den Malediven. Bei alledem ist er ein Homo politicus, ein Machtmensch, der inzwischen an den Tag denken muß, an dem „His master’s voice“ nicht mehr aus dem Lautsprecher tönt. Putin hat eine Schlange an seinem Busen genährt. Noch ist unklar, wer von beiden den anderen überleben wird.