© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Lange noch nicht Schluß
Afghanistan: Weiterhin beschäftigt der gescheiterte Einsatz den Bundestag
Christian Vollradt

Auch wenn es durch die Tatsache, daß im Osten Europas derzeit wieder ein grausamer Krieg zwischen zwei Staaten tobt, in der öffentlichen Wahrnehmung überlagert wird, gilt nach wie vor: Das Kapitel Afghanistan ist längst nicht aufgearbeitet. Es war einer der bisher längsten, vor allem aber der militärisch forderndste Einsatz der Bundeswehr im Ausland (JF 39/21). Insgesamt sind 59 Soldaten am Hindukusch verstorben, 35 von ihnen bei Gefechten oder Anschlägen gefallen.

Allein für das Engagement der Truppe mußte Deutschland über 12 Milliarden Euro berappen, die Kosten für andere Ressorts kommen noch dazu. Der Einsatz habe „zeitweise rund 25 Prozent der Bundeswehr direkt oder indirekt gebunden und den Aufgabenbereich der Landes- und Bündnisverteidigung für viele Jahre in den Hintergrund gedrängt“, räumte das Verteidigungsministerium ein. Wie es mit der groß angekündigten internen „Bilanzdebatte“ weitergeht, ließ ein Ministeriumssprecher offen. Stattgefunden hatte bisher nur eine einzige Diskussionsveranstaltung – vor über einem Jahr. 

„Das war eine Art Blankoscheck“

Im Bundestag befassen sich zwei Gremien mit der Aufarbeitung: ein Untersuchungsausschuß speziell zur chaotischen Evakuierung und eine Enquetekommission – aus 12 Abgeordneten und derselben Anzahl Sachverständigen – für den Einsatz insgesamt. Dort fand vergangene Woche die erste öffentliche Expertenanhörung statt. Was da zur Sprache kam, erinnerte zuweilen an die Zusammenfassung von Äußerungen des Publizisten Peter Scholl-Latour. Die 2014 verstorbene Reporter-Legende galt als intimer Kenner von Land und Leuten und gehörte von Beginn an zu den Kritikern des militärischen Engagements am Hindukusch. Die Verantwortlichen des westlichen Bündnisses hätten den historischen Kontext Afghanistans sowie den Konflikten zwischen den Ethnien und Interessengruppen des Landes viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet, konstatierte nun der Direktor des Bonn International Centre for Conflict Studies, Conrad Schetter. 

„Wir sind vor 20 Jahren nicht wegen Afghanistan nach Afghanistan gegangen, sondern wegen den USA“, ergänzte der einstige außen- und sicherheitspolitischer Berater des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD), Michael Steiner, gleich zu Beginn seiner Ausführungen. „Und die USA sind nicht wegen Afghanistan nach Afghanistan gegangen, sondern weil die Taliban Osama bin Laden nicht rausrückten“, so der ehemalige Spitzendiplomat. 

Daß unmittelbar nach den verheerenden Anschlägen auf das Word Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001 sein Chef im Bundestag den Amerikanern die uneingeschränkte Solidarität zugesichert habe, sei ihm persönlich, so Steiner, schon damals „eine Drehung zu weit“ gewesen, denn „das war ja eine Art Blankoscheck“, räumte Steiner ein – und gab indirekt Scholl-Latour postum recht. Der hatte die „blinde Gefolgschaft der Bundesregierung“ bereits kurz nach den Anschlägen des 11. September 2001 in einem Interview mit der JUNGEN FREIHEIT (JF 39/01) kritisiert. Seine Mahnung, man könne in dem von seinen Stammesrivalitäten geprägten Land keinen Staat westlicher Prägung aufbauen, bestätigte Steiner letztlich, indem er einräumt, da sei man einer Fehleinschätzung aufgesessen: Die Afghanen hätten selbstverständlich ihre gewachsene Gesellschaft mit ihren Regeln und Traditionen nicht einfach aufgeben wollen. So sei zu erklären, warum schon wenige Jahre nach Beginn der Intervention die Bevölkerung laut Umfragen mehrheitlich nicht etwa die Taliban, sondern die Amerikaner als Bedrohung empfunden hätten. 

Schon zuvor hatte in der Enquetekommission ein führender Mitarbeiter des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr eine ernüchternde Bilanz gezogen: Das Konzept der „liberalen Aufstandsbekämpfung“ sei nicht erfolgreich gewesen, man habe die Afghanen auf diese Weise nicht gewinnen können. Auch das „externe statebuilding“ sei nicht von Erfolg gekrönt, weil es von den Menschen vor Ort nicht akzeptiert wurde.  

„Staatsaufbau nach westlichem Vorbild funktioniert nicht“

Für den Bundestagsabgeordneten Jan Nolte (AfD), der Mitglied der Kommission ist, fällt angesichts solcher Ausführungen auf, „wie häufig schon in den ersten Sitzungen von Experten bestätigt wurde, was wir jahrelang im Plenum des Bundestages gesagt haben: Staatsaufbau nach westlichem Vorbild und auf Grundlage westlicher Werte funktioniert in kulturfremden Räumen einfach nicht“, sagte er der jungen freiheit. Dieses Konzept müsse „mit dem Ende des Afghanistan-Einsatzes ein für allemal als gescheitert gelten“, bekräftigte der Politiker, der als Soldat selbst im Einsatz am Hindukusch war.  

Einsicht ins Scheitern? Immerhin ist da ja noch die Auslandsmission in Mali. Die will die Bundesregierung im kommenden Mai letztmalig um ein Jahr verlängern und „strukturiert auslaufen“ lassen, wie es Regierungssprecher Steffen Hebestreit in schönster Bürokratieprosa vergangene Woche verkündete. Dabei ist auch dieser Einsatz faktisch längst gescheitert: Die Franzosen, zu deren Unterstützung man einst in den Sahel zog, haben sich schon aus dem Land verabschiedet, seit das Putschisten-Regime in Bamako die westliche Unterstützung für unerwünscht erklärte. Um aber Islamisten zu bekämpfen, sind die Einheiten der Bundeswehr allein zu schwach. 

Lehren aus Afghanistan? Die sind auf den ersten Blick eher kosmetischer Natur. So wurde in die jüngste Mandatsverlängerung eine Rückzugsklausel eingebaut für den Fall, daß die deutschen Truppen in Mali nicht mehr sicher sind. Und seit dem Gezerre um tatsächliche oder vermeintliche Ortskräfte in Afghanistan nennt man die einheimischen Dienstleister nun „lokal Beschäftigte“.

Stichwort Ortkräfte: Die waren jüngst Thema im ersten Untersuchungsausschuß dieser Legislaturperiode, der die Vorgänge rund um den überstürzten Abzug aus Kabul aufklären soll. Bezeichnenderweise veranschaulichte die Sitzung, wie wenig man in deutschen Behörden über die Anzahl und die Hintergründe derer zu wissen scheint, die mit dem Status Ortskraft hierzulande Aufnahme fanden oder noch finden. 

So schilderte ein afghanischer Fernseh-Cutter als Zeuge, wie er und seine Familie in der Heimat drangsaliert und bedroht worden seien. Bereits 2014 war der Mann mittels eines Schleusers nach Deutschland gelangt. Nach einigen Unklarheiten in seiner simultan aus der Sprache Dari übersetzten Aussagen teilte schließlich ein Mitarbeiter des Bundesverteidigungsministeriums den Abgeordneten noch während der Sitzung mit, daß der Mann keinen Arbeitsvertrag mit der Bundeswehr, sondern mit der Nato hatte, also keine Ortskraft im Sinne des Untersuchunsgauftrags des Ausschusses war. Dessen Vorsitzender Ralf Stegner (SPD) beendete daraufhin die Befragung des Zeugen. 

Dessen Eltern haben inzwischen, wie er noch berichtete, im Evakuierungsprozeß Afghanistan verlassen und konnten über das Ortskräfte-Programm der deutschen Entwicklungshilfe (GIZ) mit einem Visum nach Deutschland kommen.

Foto: Soldaten der Bundeswehr und anderer Nationen im afghanischen Masar-i-Scharif: Einer Fehleinschätzung aufgesessen