© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Wege über das Meer
Neue Masseneinwanderung: Migranten lassen sich in Yachten nach Italien schleusen – Teil 3 einer JF-Reportage
Hinrich Rohbohm

Der Mann auf der Sitzbank ist kaum zu erkennen. Er hat sich die Kapuze seiner Jacke weit ins Gesicht gezogen. Ob er hinaus auf das Meer schaut oder in Richtung der zahlreichen Lichter der türkischen 200.000-Einwohner-Stadt Bodrum in der südlichen Ägäis oder einfach nur vor sich hindöst, ist in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Neben ihm auf der Bank liegt ein großer Rucksack. Zwischen seine Beine hat der Mann mehrere Plastiktüten geklemmt. Doch ein Stadtstreicher ist er nicht. Neue weiße Turnschuhe, keine ausgefranste Hose, auch die Jacke wirkt fast ungebraucht. Mehr läßt sich in dem spärlichen Licht, das von der Promenade herüberscheint, nicht erkennen.

Es ist bereits spät, 23 Uhr. Ein kühler leichter Wind bläst vom Wasser herüber, läßt Kälte in die Kleidung kriechen. Wer hier, etwas abseits vom Stadtzentrum um diese Zeit auf den Bänken sitzt, will nicht einfach nur rasten oder die Aussicht genießen. Es ist ein Ort, an dem sich vereinzelt Migranten versammeln. Ein Blick zu den anderen Rastgelegenheiten der Umgebung zeigt: Es sitzen noch mehr Männer mit ins Gesicht gezogener Kapuze, Rucksäcken und Plastiktüten herum. Einzeln. Fast unauffällig. Außerhalb des Zentrums.

Noch vor wenigen Jahren war das Stadtbild Bodrums von zahlreichen Syrern und Schwarzen geprägt. Von der westtürkischen Küstenstadt aus starteten sie ihre Versuche der illegalen Einreise nach Europa. Schlepper hatten sie per Schlauchboot hinüber auf die nur wenige Kilometer über das Mittelmeer entfernte griechische Insel Kos und damit in die EU gebracht.

Doch seit die griechische Marine und die Küstenwache die Gegend scharf kontrollieren, sind die Zahlen der Einwanderer auf den griechischen Ägäis-Inseln deutlich zurückgegangen. Die Corona-Pandemie sorgte für ein zusätzliches Abflauen der illegalen Einreisen. „In der Stadt sind jetzt kaum noch Migranten“, sagt Hakan. Der 37jährige betreibt am Hafen einen Bootsverleih, bekommt jeden Tag das Geschehen an der Promenade mit. „Es ist besser geworden. Allmählich kommen die Touristen wieder, und die Migranten verschwinden.“

Vor allem wohlhabende Russen seien in den letzten Monaten verstärkt nach Bodrum gekommen. „Die Männer haben Angst, daß sie in die Armee eingezogen werden könnten. Daher kommen sie mit ihren Familien jetzt verstärkt hierher.“ Die Immobilienpreise hätten in Bodrum noch stärker angezogen als im Rest des Landes, Wohnraum sei rar und heiß begehrt. Auch das sei ein Grund, warum Syrer und Schwarze sich andere Plätze suchen würden.

„Wir wollen nach Europa“, gibt einer von ihnen unumwunden zu

„Viele campen in den umliegenden Wäldern oder in abgelegenen Ecken am Stadtrand“, erzählt Hakan. Die beiden Männer, die sich von der Sitzbank erhoben haben, machen sich ebenfalls auf den Weg raus aus der Stadt. Die JF folgt ihnen bis zu einem abgelegenen Parkplatz. Dahinter herrscht Dunkelheit, unbebautes Gelände. Einige Büsche bieten einen Sichtschutz. Nachdem sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, lassen sich in dem Gestrüpp mehrere kleine Gruppen von Schwarzen ausmachen, die hier ihr Nachtlager aufgeschlagen haben. Hauptsächlich Männer aus Somalia, Eritrea und dem Südsudan, wie sich in Gesprächen herausstellt.

„Wir wollen nach Europa“, gibt einer von ihnen gegenüber der JF unumwunden zu. Wie sie das anstellen wollen, darüber schweigen sie. Hakan erklärt, die Zeiten, in denen sie nachts mit Schlauchbooten Richtung Kos aufbrachen, seien vorbei. Längst sei es kein Geheimnis mehr, daß türkische und russische Bootsbesitzer in und um Bodrum ein lukratives Zusatzgeschäft betrieben. „Sie fahren aus dem Hafen und nehmen nahe der Küste die Migranten auf ihrem Schiff auf.“

Selbst größere Luxusyachten seien darunter. „Die Schleuser setzen Schlauchboote jetzt nur noch für den kurzen Transport zu den nahe gelegenen Segelyachten ein.“ Manchmal seien es nur 15, oft aber 30, 50 oder bei entsprechender Größe der Yacht bis zu 100 Personen, die in den Rumpf eines Schiffes gequetscht werden, um sie durch die Ägäis abseits der Kontrollrouten bis an die italienische Ostküste zu bringen.

Auch Hakan sei schon angesprochen worden. „Die kamen und boten mir 200.000 Lire an, wenn ich eine Gruppe Afrikaner zum griechischen Festland bringe.“ Umgerechnet mehr als 10.000 Euro. Viel Geld in Zeiten hoher Inflation, den Nachwehen der Corona-Pandemie, die das Geschäft mit den Touristen lange zum Erliegen gebracht hat. „Die Versuchung ist groß“, meint auch Hakan.

Doch die Schleuser würden ein noch viel besseres Geschäft machen. „Die bekommen pro Migrant 5.000, manchmal sogar 10.000 Euro. Wenn sie 50 Migranten im Rumpf eines Bootes zusammenpferchen, bringt ihnen eine Tour zwischen 250.000 und 500.000 Euro.“

Als Hotspot gilt zwar nach wie vor auch Bodrum. Das Geschehen würde sich aber zunehmend ins drei Autostunden südlich gelegene Marmaris und nach Side an die türkische Riviera verlagern. „Von dort ist es leichter, die griechischen Patrouillenschiffe zu umfahren“, weiß Hakan. Statt in Bodrum würden die Schleuser ihre „Klienten“ jetzt verstärkt dort in Hotels und Pensionen unterbringen. Zudem würden auch immer mehr Boote an der türkischen Südwestküste gestohlen. „Bootsdiebstähle haben stark zugenommen. Einige davon wurden später verlassen in Griechenland und in Italien entdeckt.“

Vor allem der Ort Santa Maria di Leuca am äußersten Südzipfel Apuliens dient den Schleusern als Anlandestelle. „Bis hier her sind es nur 160 Kilometer von der griechischen Insel Korfu“, erklären der JF Fischer in der süditalienischen Hafenstadt Bari. Für die Männer ist die illegale Migration Alltag. „In jeder Woche kommen Neue aus der Türkei, aus Ägypten oder aus Griechenland“, sagt einer von ihnen. Meist Syrer, Afghanen, Afrikaner. Abends sitzen viele von ihnen am Brunnen vor dem Hauptbahnhof oder in den Parks der Innenstadt, trinken Alkohol oder rauchen Marihuana. Wer Arbeit findet, bleibt. „Aber die meisten wollen weiter nach Rom“, sagen die Fischer.

Auch die östliche Mittelmeer-Route wird häufiger genutzt

Bis Ende Oktober nutzten mehr als 35.000 Migranten die östliche Mittelmeerroute. Entweder, um auf das griechische Festland zu gelangen oder direkt nach Apulien, an die italienische Ostküste. In den Häfen würden sich manchmal erschütternde Szenen abspielen. „Die Schleuser geben den Migranten praktisch nichts mit auf den Weg, kein Essen, kein Trinken.“ Nicht wenige hätten kaum eine Vorstellung über die Dauer der Reise, seien mit zu wenig Proviant aufgebrochen.

Das bestätigen uns auch Migranten. „Uns wurde nichts gesagt. Wir dachten, die Fahrt dauert nur ein paar Stunden“, schildert Akippi der JF die Dramatik seiner Überfahrt. Der 24jährige stammt aus dem Südsudan, war bereits 2019 über Kairo, Istanbul und Antalya nach Side gelangt. Nach mehreren Jahren Arbeit in der Türkei brachten ihn Schleuser per Boot in die Nähe der apulischen Hafenstadt Brindisi. „Kurz vor der Küste haben uns die Schleuser dann auf ein Schlauchboot gesetzt, mit dem wir das letzte Stück allein zurücklegten.“ Von Brindisi aus schlug sich Akippi nach Rom durch, der Drehscheibe Richtung Norden.

Wie viele andere sitzt er nun am Hauptbahnhof Termini, trifft hier mit Migranten von der zentralen Mittelmeerroute zusammen, über die bis Oktober mehr als 85.000 Menschen nach Italien gekommen sind, eine Zunahme von über 80 Prozent gegenüber dem ganzen Vorjahr. Der Zuwachs an Einwanderern über die östliche Mittelmeerroute hingegen fällt mit einer Zunahme von lediglich zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr eher moderat aus. Offenbar auch eine Folge der strengen Grenzsicherung, die die neue bürgerlich geprägte griechische Regierung seit der Ablösung der linksradikalen Syriza-Partei verfolgt.

Akippi übernachtet wie viele der Migranten in der Nähe des Hauptbahnhofes. Jeden Tag werden von hier aus Menschen weiter nach Norden geschleust. Viele schlafen auf Matratzen rund um den Hauptbahnhof. Akippi hat es besser getroffen. Gemeinsam mit drei weiteren Landsleuten kann er sich ein Zimmer teilen.

Interessant dabei: Offenbar sind in Rom auch Chinesen im Schleusergeschäft mit von der Partie. Das Zimmer von Akippi und seinen Landsleuten wird ebenfalls von Chinesen vermietet. „Sie sorgen für unsere Unterbringung und den Weitertransport“, verrät der 24jährige. Per Lieferwagen sollen er und seine Landsleute von Chinesen nach Mailand gebracht werden. Über weitere Details will die Gruppe keine Auskunft geben. Man wolle keinen Ärger, heißt es.

Blickt man sich in den Wohnblöcken gegenüber des Roma Termini näher um, so sind neben zahlreichen Schwarzen tatsächlich auch immer wieder Menschen aus dem Reich der Mitte zu sehen. Viele der kleinen Gästezimmer und Pensionen werden von ihnen betrieben, in denen neben Migranten aber auch asiatische Backpacker preisgünstig logieren.

An den Klingelschildern sind zahlreiche chinesische Namen auszumachen. Immer wieder kommen Lieferwagen mit chinesischen Fahrern an. An den Ecken der Wohnblöcke stehen Afrikaner, wartend, die Gegend überblickend. „Das sind meist Vermittler“, erklärt Akippi. Auch er sei durch einen dieser „Vermittler“ zu neuen Schleusern gebracht worden, die ihn weiter nach Frankreich und schließlich nach England bringen sollen. Zwei seiner Landsleute werden nach Deutschland aufbrechen, der vierte des Quartetts sagt, er wolle nach Holland. Allein werden sie dort nicht sein. Alle sagen, daß sie bereits in telefonischem Kontakt mit Bekannten in ihren Zielländern stehen.

Lesen Sie in der kommenden Ausgabe mehr über die Migrationswege in die EU. In Teil vier reisen wir in die ägyptische Haupstadt Kairo. Hier entscheidet sich für viele Einwanderer, welchen Weg sie nach Europa weiterverfolgen.

Fotos: Die griechische Küstenwache hat eine Segelyacht mit etwa 40 Migranten aufgebracht und geleitet sie zu der Insel Kythira: Berichten zufolge war es das zweite Boot an dem Tag. Das erste hatte 97  Einwanderer an Board.; Am Bahnhof Rom Termini finden sich die Reste der Schlafplätze; In Rom warten junge Männer auf ihre Kontaktpersonen zur Weiterreise nach Norden; Riesige Yachten kreuzen mehr oder minder unbehelligt vor der türkischen Küste