© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Gefährliches Spiel mit dem Feuer
Türkei: Ankara droht mit einer Bodenoffensive gegen die Kurden / Washington warnt vor Eskalation der Gewalt
Marc Zoellner

Die M4 ist eine der wichtigsten Fernverkehrsstraßen Syriens. Von Latakia aus, der größten Hafenstadt des Landes, verläuft die Schnellstraße mehr oder minder parallel zur syrisch-türkischen Grenze. Vorbei am von Rebellen gehaltenen Idlib sowie der Großstadt Aleppo, die sich unter der Kontrolle der Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad befindet, legt sie anschließend mehrere hundert Kilometer durch die kurdischen Gebiete Syriens zurück. Hier begrenzt sie unter anderem den 2019 von der Türkei besetzten Korridorstreifen nach Süden hin. 

Für die „Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien“ (AANES), besser bekannt als „Rojava“, wie die kurdische Autonomieverwaltung der Region sich selbst bezeichnet, ist die M4 das kurdische „Tor zum Osten“: Immerhin führt die Schnellstraße direkt zur irakischen Millionenstadt Mossul und ist somit von immenser wirtschaftlicher Bedeutung für den Außenhandel Rojavas mit Erdöl und landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Militärisch hingegen bedroht die M4 seit je das Sicherheitsbedürfnis der benachbarten Türkei – und schließlich auch jenes Baschar al-Assads, der mit Aleppo die zweitgrößte Stadt seines Landes von gleich drei Seiten eingekesselt sieht.

Weiter Rätselraten um den Anschlag in Istanbul 

In Qamischli, an der nordöstlichen Grenze Syriens zur Türkei gelegen und von der Rojava kontrolliert, hatten sich vergangenes Wochenende Vertreter Rußlands sowie der kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG) getroffen, um über selbige heikle Ausgangssituation zu beraten. Auch hier gilt vorab zu wissen: Rußland befindet sich seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im März 2011 im militärischen Bündnis mit den Truppen al-Assads; die Rojava wird unter anderem von den USA militärisch unterstützt; die mehrheitlich islamistischen Rebellen des Idlib wiederum von der Türkei. Der eindringlichen Bitte Rußlands, die Truppen der YPG auf eine Linie südlich der M4 zurückzuziehen, um türkischen Forderungen nach einem vergrößerten Sicherheitskorridor entgegenzukommen, wollten die YPG allerdings nicht entsprechen. Wohlbegründet fürchtet die Rojava, bei einem einseitigen Truppenrückzug zwischen türkischen und syrischen Truppen zerrieben zu werden, womit die Autonomie der Kurdengebiete Syriens nach mehr als acht Jahren Widerstand binnen weniger Wochen verspielt sein könne.

Diesbezügliche Gefahr besteht für die Rojava tatsächlich: Seit dem 20. November fliegt die türkische Luftwaffe massiv Angriffe auf Stellungen der YPG in Syrien sowie der PKK im Nordirak. Auslöser der jüngsten Militäroperation mit dem Namen „Klauenschwert“ war ein verheerender Bombenanschlag im „Beyoğlu“-Bezirk des europäischen Teils Istanbuls, bei welchem eine Woche vorher mindestens sechs Menschen getötet worden waren, darunter ein neunjähriges Mädchen, sowie über achtzig weitere Passanten zum Teil schwer verletzt wurden. Die türkische Regierung macht die linksextreme Kurdische Arbeiterpartei (PKK) für den Terroranschlag verantwortlich. Als syrischer Ableger der PKK gelten der Türkei zufolge die YPG. Zwei Wochen nach dem Anschlag vermeldet Ankara bereits rund fünfzig Verhaftungen in Zusammenhang mit der Tat. PKK und YPG hingegen bestreiten ihre Verwicklung und beschuldigen ihrerseits die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS).

Tatsächlich aber schlugen auch in der vergangenen Woche Raketen aus den syrischen Kurdengebieten in der türkischen Grenzstadt Karkamış ein und töteten mindestens zwei türkische Zivilisten. Für die türkische Regierung galt dies als hinreichender Beweis einer latenten Bedrohung der Sicherheit der Türkei durch kurdische Separatisten. „Unser Militäreinsatz mit Flugzeugen, Kanonen und Drohnen ist nur der Beginn“, drohte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nur einen Tag später. „Unsere Entschlossenheit, unsere gesamte südliche Grenze mit einer Sicherheitszone zu sichern, ist heute stärker als je zuvor. Während wir die Luftangriffe ununterbrochen vorantreiben, werden wir zum für uns günstigsten Zeitpunkt auch auf dem Landweg gegen Terroristen vorgehen.“ 

Den Beginn einer türkischen Bodenoffensive erwarten Konfliktbeobachter schon in den nächsten Wochen, und auch die einzunehmenden Ziele werden bereits erwogen: mit den Orten Manbidsch und Qamischli zur endgültigen Kontrolle der Schnellstraße M4 – sowie der symbolisch bedeutsamen Stadt Kobanê, die vor acht Jahren von kurdischen Streitkräften erfolgreich gegen anstürmende IS-Dschihadisten verteidigt worden war.

Nach türkischen Angaben wurden im Verlauf der Operation „Klauenschwert“ bislang mehr als dreihundert Mitglieder von YPG und PKK liquidiert. Kurdische Vertreter sprechen von relativ geringen Verlusten. Gleichwohl hatte mit dem Kommandeur Mazloum Abdi ein ranghoher Vertreter der Rojava vergangenes Wochenende anzukündigen, die Aktivitäten seiner kurdischen Einheiten gegen versprengte IS-Terrorzellen aufgrund der türkischen Luftangriffe sowie der drohenden Bodenoffensive aussetzen zu müssen. Überdies warnten kurdische Politiker vor einem Wiedererstarken des IS infolge des türkischen Angriffs. In den syrischen Kurdengebieten sind etwa zwei Dutzend Gefangenenlager mit mehr als zehntausend inhaftierten IS-Kämpfern gelegen. In jenem der Ortschaft al-Haul, so Vertreter der Rojava, sei durch einen Drohnenangriff der Türkei mehreren inhaftierten IS-Angehörigen bereits kurzzeitig die gewaltsame Flucht gelungen.

In einem Interview mit der US-Tageszeitung Politico hatte Abdi bereits vergangene Woche an US-Präsident Joe Biden appelliert, den kurdischen Autonomiegebieten politischen Schutz zukommen zu lassen. Daraufhin äußerte sich der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA, John Kirby, eher zurückhaltend. „Wir sind nicht in der Lage, konkret zu sagen, wer für den Anschlag in Istanbul verantwortlich war“, erklärte der 59jährige am Montag und fuhr fort: „Wir haben die Gewalt zu der Zeit verurteilt. Wir verurteilen sie auch heute“. Dennoch habe die Türkei das Recht, sich und ihre Bürger gegen Terrorangriffe zu verteidigen.

Es gehe nun um eine Deeskalation der Spannungen. Dabei sei darauf zu achten, daß die US-Regierung „keine Aktionen sehen“ will, die zu weiteren Opfern führen, insbesondere zu Opfern unter der Zivilbevölkerung. Die andere Sache sei, daß Washington „auch keine Aktionen innerhalb Syriens sehen“ wolle, „weder von der Türkei noch von irgend jemand anderem, die „das Leben von Amerikanern in Gefahr bringen“ könnte, die im Norden Syriens das säkulare Militärbündnis „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF) im Kampf gegen den IS unterstützen.

Foto: Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht im Parlament in Ankara: Die Bodenoperation in Nordsyrien wird „zum günstigsten Zeitpunkt“ starten