© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Das Karlsruher Nikolaus-Urteil
EU-Politik: Entscheidung über die Gemeinschaftsschulden des Corona-Wiederaufbaufonds
Dirk Meyer

Die EU-Gemeinschaftsschulden mit Kollektivhaftung der Staaten, oft als Eurobonds betitelt, stellen einen ordnungspolitischen Rubikon dar – einmal überschritten, ist der Weg in eine Fiskalunion frei und kaum mehr umkehrbar. Von den Befürwortern einer zentralistischen EU – Olaf Scholz, EZB-Präsidentin Christine Lagarde, EU-Kommission – angestrebt, werden sie von Kritikern als Abkehr vom Nichtbeistandsprinzip (Artikel 125 AEUV) abgelehnt. Dieses untersagt sowohl den Mitgliedstaaten als auch der EU selbst, für Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates einzutreten.

Und das aus gutem Grund, denn nur so sind die Staaten gehalten, solide Haushalte zu führen und ihre Kreditwürdigkeit zu erhalten. Bereits die Euro-Rettungsfonds, die für in Liquiditätsnöte geratene Staaten (Griechenland 2010, 2012, 2015; Irland 2010; Portugal 2011; Zypern 2013) Kredite mit gesamtschuldnerischer Haftung ausreichten, machten eine EU-vertragliche Erweiterung (Artikel 136) notwendig. Allerdings unterliegen diese Hilfen strengen Auflagen. Anders die Corona-Hilfsprogramme der EU: die Kurzarbeiterhilfe SURE (2020; 100 Milliarden Euro) und der Wiederaufbaufonds NextGenerationEU (NGEU 2021; 820 Milliarden Euro).

Müssen Einnahmen und Ausgaben nicht mehr ausgeglichen werden?

Für den NGEU-Fonds nimmt die EU erstmalig in erheblichem Umfang Kredite auf, die durch Quasi-Garantien aller Mitgliedstaaten abgesichert sind. Hierzu mußte die Eigenmittelverordnung (Artikel 311) in einem EU-Gesetzgebungsverfahren entsprechend angepaßt werden. Dagegen gilt für die EU der Grundsatz, daß ihr Haushaltsplan „in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen“ ist (Artikel 310). Kredite zählen demnach nicht zu den finanziellen Mitteln im EU-Haushalt. Im Innenverhältnis der EU bedeutet der geänderte Eigenmittelbeschluß im Grundsatz – und der spiegelt den „Normalfall“ wider –, daß die Mitgliedstaaten anteilig für die Verbindlichkeiten gemäß der üblichen EU-Beitragsfinanzierung einstehen.

Für Deutschland sind das etwa 24 Prozent, also rund 200 Milliarden Euro. Da die Kredittilgung aber erst für den Zeitraum 2028 bis 2058 vorgesehen ist, sind weitere Haushaltsperioden nach 2028 von den Tilgungslasten aus dem Wiederaufbaufonds betroffen. Für den „Sonderfall“, daß in dieser Zeit einzelne Mitgliedstaaten – beispielsweise Italien oder Griechenland – ausfallen, müßten die anderen EU-Staaten ihre Garantien einlösen und deren Zahlungen mit übernehmen. Deutschland würde jährlich mit bis zu 32,65 Milliarden Euro haften – und zwar bis 2058.

Rein rechnerisch beträgt die auf Deutschland entfallende Garantiesumme etwa eine Billion Euro. Selbst in dem unrealistischen Fall, daß alle anderen EU-Staaten infolge von Zahlungsunfähigkeit, Zahlungsunwilligkeit oder infolge von „No-Deal“-Austritten ausfallen, müßte Deutschland als einziger Mitgliedstaat für die gesamte Kreditsumme von etwa 820 Milliarden Euro notfalls alleine geradestehen. Hinzu kommt: Der NGEU-Fonds ist vornehmlich einigen hochverschuldeten Eurostaaten geschuldet, insbesondere Italien. Diese haben in der Vergangenheit zum Teil die EU-Schuldenregeln mißachtet, und es besteht das Risiko, daß sie bei einer nationalen Kreditfinanzierung in dem angestrebten Volumen den Kapitalmarktzugang verlieren könnten. Mit EU-Krediten kann hingegen das Haftungspotential der – noch – solventen Mitglieder genutzt werden.

Lediglich gegen diese Kreditfinanzierung des Wiederaufbaufonds, nicht jedoch gegen die Corona-Hilfen an sich, richtet sich die im März 2021 eingereichte Verfassungsbeschwerde des Bündnis Bürgerwille. Mit ihrem Sprecher, dem Wirtschaftsprofessor Bernd Lucke (Uni Hamburg) und dem Prozeßvertreter Hans-Detlef Horn (Uni Marburg), umfaßt die Gruppe 2.281 Mitkläger, darunter weitere bekannte Professoren wie Philipp Bagus, Walter Krämer, Joachim Starbatty und Roland Vaubel, sowie Politiker, etwa den früheren CDU-Staatssekretär Sighart Nehring und den ehemaligen Präsidenten des Industrieverband BDI, Hans-Olaf-Henkel.

Konkret richtet sich die Klage gegen das Eigenmittelbeschluß-Ratifizierungsgesetz (ERatG), welches das europäische in deutsches Recht überführt. Einen weiteren Parlamentsvorbehalt könnten die möglichen Kreditgarantien notwendig machen, deren parlamentarische Zustimmung mit Rückhalt im Ermächtigungsprinzip des Haushaltsverfassungsrechts begründet liegt. Schließlich schlummern hier potentielle zukünftige Haushaltslasten. Dies ist aber nicht Gegenstand der Verfassungsklage.

Wie könnte das für den 6. Dezember angekündigte „Nikolaus-Urteil“ ausfallen? Eine grundsätzliche Alternative wäre die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde. Angesichts der Bedeutsamkeit der Fragestellung ist dies unwahrscheinlich. Eine andere Möglichkeit besteht in der Vorlage des Falls gemäß Artikel 267 beim Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dieser Weg wurde auch anläßlich des Verfahrens zu den Staatsanleiheankäufen (PSPP) vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beschritten.

Zukünftige gemeinschaftliche Schuldenaufnahme verhindern

Ausgeschlossen ist jedoch, daß das BVerfG der Beschwerde stattgibt, ohne vorher den EuGH zu konsultieren. Gemäß dem Prinzip der richtungsgebenden Kompetenz des EuGH wäre das deutsche Verfassungsgericht gehalten, dem EuGH im Rahmen einer Ultra-vires-Kontrolle, also bei einer möglichen Überschreitung des Mandats der Union, Gelegenheit zur Prüfung und Vertragsauslegung zu geben. Auch angesichts des Verlaufs der mündlichen Verhandlung zu diesem Verfahren am 26./27. Juli dieses Jahres bleibt der Ausgang völlig offen.

Allerdings ist an den Krediten und der gesamtschuldnerischen Haftung Deutschlands nichts mehr änderbar. Indem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Zustimmungsgesetz bereits im April 2021 unterzeichnet hat, ist eine völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik Deutschland in Kraft gesetzt, die auch das BVerfG nicht mehr annullieren kann.

Die Bedeutung des Urteils liegt vielmehr darin, eine zukünftige und durchaus wahrscheinliche gemeinschaftliche Schuldenaufnahme der EU zu verhindern oder ihr zumindest Begrenzungspflöcke einzuschlagen. Schließlich hat das BVerfG in seinen bisherigen Urteilen immer den Grundsatz verfolgt, der Bundesregierung ihr Handeln nicht völlig zu versagen, aber dennoch eine Einhegung ihrer zukünftigen Handlungsspielräume aufzuzeigen. Der Nikolaustag wird jedenfalls spannend.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. buendnis-buergerwille.de