© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Ein Querdenker unter Mitläufern
Nachruf: Hans Magnus Enzensberger beschäftigten vor allem deutsche Befindlichkeiten
Thorsten Hinz

Mit Hans Magnus Enzensberger ist vergangenen Donnerstag einer der Letzten des Jahrgangs 1929 gestorben, der für das geistige und künstlerische Leben in Deutschland so bedeutsam und folgenreich war. Zu seinen Vertretern im Westen zählen Reinhard Baumgart, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Walter Kempowski, Peter Rühmkorf, Peter Szondi. Aus der DDR sind mindestens Christa Wolf, Günter Kunert und Heiner Müller zu nennen. Enzensberger wurde von Günter Maschke der – westsozialisierten – Flakhelfer-Generation zugerechnet, die vom Gemeinschaftskunde-Unterricht, den Care-Paketen und den US-Stipendien für Demokratiewissenschaft geprägt wurde. „Die schöne neue Welt“, die diese Generation „nach Blut und Tränen schauen durfte, wurde von der einen Fraktion von ihr später als realisiert angenommen, von der anderen aggressiv eingefordert“. Die kritisch-fordernde Fraktion habe sich überwiegend aus Intellektuellen formiert, die Maschke als „enttäuschte Normativ-Demokraten“ bezeichnete.

Enzensberger, aufgewachsen in einer katholischen bürgerlichen Familie, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie; 1955 wurde er mit einer Arbeit über Clemens Brentanos Poetik promoviert. Er war als Lyriker, Romanautor, Dramatiker, Herausgeber, Essayist, Literaturkritiker, als Lektor sowie als Redakteur in Funk- und Printmedien tätig, aber vor allem und in der Summe war er der Intellektuelle par excellence. Als solcher war er allerdings ein Sonderfall, der sich in der Rolle des „enttäuschten Normativ-Demokraten“ keineswegs erschöpfte. Unter den Künstlern und Intellektuellen zählte er zu den wenigen, die mit politischer Urteilskraft begabt waren. Der frömmelnde Moralismus eines Heinrich Böll, die halbgare Rechthaberei eines Günter Grass oder der weltfremde Universalismus eines Habermas standen ihm fern. In ihnen entäußerten sich die Symptome jener deutschen Krankheit, die gerade in Fäulnis übergeht; Enzensberger hingegen war in seinen besten Momenten ihr luzider Analytiker. 

Er war ironisch, sarkastisch, unsentimental. Trotzdem bewegte ihn das Hölderlinsche Leiden an Deutschland und inspirierte ihn 1960 zu prophetischen Versen: „Denn dieses Land, vor Hunger rasend, / zerrauft sich sorgfältig mit eigenen Händen, / dieses Land ist von sich selber geschieden, /ein aufgetrenntes, inwendig geschiedenes Herz, /unsinnig tickend, / eine Bombe aus Fleisch, /eine nasse, abwesende Wunde“.

Das titelgebende Gedicht seines 1957 erschienenen Lyrikbandes „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ fordert den Vergleich mit Heinrich Bölls zwei Jahre später erschienenem Roman „Billard um halbzehn“ heraus. Böll erzählte eine Familiengeschichte, die vom Kaiserreich über die NS-Zeit bis in die bundesdeutsche Gegenwart reicht und ein Manichäismus von Gut und Böse, von den Verkostern des „Sakraments der Lämmer“ und den Verzehrern des „Sakraments der Büffel“, entfaltet. Für Enzensberger waren das Problem nicht die Büffel oder Wölfe, die ihrer Natur gemäß handeln, sondern die Lämmer, nämlich die Opportunisten und Mitläufer, die sich willig der Täuschung und dem billigen Trost hingeben und als ihren „teuersten Schmuck“ den „Nasenring“ tragen: „Winselnd noch / lügt ihr. Zerrissen / wollt ihr werden. Ihr / ändert die Welt nicht.“ Ob gläubiger Kommunist, Nationalsozialist oder geläuterter Demokrat – es ist der hörige, nach Gefolgschaft süchtige Massenmensch, den Enzensberger im Blick hatte.

Das Gedicht „An einen Mann in der Trambahn“ handelt von der geschlagenen Väter- und der eigenen vaterlosen Generation: „Ich mag nichts wissen von dir, Mann“. Das lyrische Ich empfindet Ekel vor dem „Mann mit dem Wasseraug, mit dem Scheitel aus Fett und Stroh/ der Aktentasche voller Käse“. Die literaturgeschichtliche Figur, an die er seine Abscheu adressiert, ist das lyrische Ich aus Günter Eichs Gedicht „Inventur“, das 1945/46 in einem Kriegsgefangenenlager entstand: Mantel, Mütze, Leinenbeutel, die Konservenbüchse aus Weißblech, Wollsocken sind die einzigen Habseligkeiten, die dem Überlebenden und Besiegten bleiben.

Elf, zwölf Jahre später haben die Geschlagenen das Wirtschaftswunder vollbracht, doch die Spuren von Entbehrung, Schmutz und schwärenden Wunden sind an ihnen haften geblieben. Die Freß- und Reisewelle haben ihnen Kompensation verschafft, aber ihnen weder zu Lebensgenuß noch zu kultureller Sublimierung verholfen. Sie wissen trotz ihrer Auslandsreisen nicht, „wie die Welt riecht, wie der Lachs steigt / in Lappland, der Duft der Scala“. Karl Heinz Bohrer hat das Thema in seinen 1990/91 publizierten, giftigen Provinzialismus-Glossen ausgeführt und vertieft.

Enzensberger lieferte ein Psychogramm seiner Generation, der ihre Herkunft peinlich war. „In meiner Jugend wurde jeder Deutsche, der das Glück hatte, ins Ausland reisen zu können, dort einer formlosen Prüfung unterzogen. Wie alt, so lautete die stille Frage, ist er 1933 gewesen? Und wie alt 1945?“ Sein Glück sei es gewesen, daß er als „ausgewachsener Nazi einfach nicht in Frage kam“.

Seine Sicht auf das geteilte Deutschland hat er 1963 in seiner Büchnerpreisrede scharfsinnig und spachlich brillant dargelegt: „Wir gehören zwei Teilen eines Ganzen an, das nicht existiert; zwei Teilen, von denen jeder leugnet, Teil zu sein, und jeder auftritt im Namen des Ganzen und als wäre er ganz. Das Ganze, nicht mehr vorhanden, ist somit zugleich halbiert und gedoppelt. Dieser Zustand gilt zugleich als vorläufig und als definitiv: das Provisorium ist unantastbar. Jeder Teil spricht dem andern Existenz oder Existenzberechtigung ab. Beide Teile sind sich in allen Punkten uneinig, außer in einem: daß es darauf ankomme, einander in allen Punkten zu widersprechen. Unter diesen Umständen ist es offizielle Sprachregelung und Hochverrat zugleich, Wir zu sagen: das Wort hat zwei Bedeutungen angenommen, die sich bedingen und einander ausschließen.“ 

Unter diesen Umständen sei nationale Identität unmöglich. „Wir sind nicht identisch mit einem dieser Staaten, mit keinem von ihnen können wir uns identifizieren. Im Gegenteil: je mehr ihre Identität sich festigt, desto fragwürdiger wird die unsrige.“ Die Ursache der Entfremdung sah er im gemeinsamen Geburtsfehler sowohl des einen wie des anderen deutschen Teilstaates: „Denn diese Staaten sind nicht von uns gemacht, sie sind uns verordnet worden. (…) Bekenntnisse zu diesen Staaten werden heute hüben und drüben verlangt und vermißt. Diese Zumutungen sind gespenstig. Liebe läßt sich nicht fordern, Bekenntnisse lassen sich allenfalls erpressen, und Identität ist administrativ nicht zu stiften.“

Die deutsche Teilung bedingte einen innerdeutschen Bürgerkrieg, der beide Seiten prägte. Die systemische Repression in der DDR wurde bis zum Schluß wesentlich mit der Tücke des Klassenfeinds in Bonn begründet. Im Westen konnte Kritik zur Aufforderung führen: „Dann geh doch rüber!“ In einem 1962 verfaßten Text „Über den Beifall von der falschen Seite“ schrieb Enzensberger dazu: „Was dem Gegner nützt, muß unterbleiben: Worauf dieser Satz hinausläuft, das wird an seiner Umkehrung klar: Was der eigenen Seite nützt, geschieht. Die Struktur beider Sätze ist totalitär.“

1966 empfahl er „die Respektierung der DDR“, weil sie „eine zukünftige Einigung, vielleicht sogar Vereinigung“ begünstige. Beide deutsche Staaten sollten konföderieren und einen „Deutschen Rat“ bilden, in dem Delegierte des Bundestages und der Volkskammer zusammenarbeiten. Im weiteren Verlauf „verlören (sie) ihre Geschlossenheit; sie müßten voneinander lernen; sie könnten einander Versionen ihrer Zukunft anbieten“. 

Dahinter stand eben der Gedanke, daß beide deutsche Teilstaaten ungeachtet der unterschiedlichen Qualität an der Wurzel krank waren und die Wiedervereinigung zu einer gesamtdeutschen Gesundung führen müßte. Stattdessen stülpte sich 1989/90 der größere dem kleineren Teilstaat über mit dem Ergebnis, daß sich aus der deutsch-deutschen Konfrontation eine gesamtdeutsche Autoaggression entwickelte, die das Land zerstört.

Souverän nutzte Enzensberger die Begrifflichkeit der Frankfurter Schule und ergänzte Adornos „Kultur-“ um die „Bewußtseinsindustrie“, welche die Presse ausdrücklich einschließt. Aufsehen erregte er 1957 mit dem Funk-essay „Die Sprache des Spiegel“. Er attestierte dem Nachrichtenmagazin eine Schlüsselloch-Perspektive und anekdotische Berichterstattung, in der die größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge ausgeblendet blieben. Die Historie schrumpfe „zum Histörchen“, die Pseudokritik befördere das Ressentiment statt die Erkenntnis und führe zum Orientierungsverlust. „Jedes Volk, so können wir hinzufügen, verdient die Presse, die es nötig hat. Daß wir ein Magazin vom Schlage des Spiegel nötig haben, spricht nicht für das Blatt, das die Masche zu seiner Moral gemacht hat: Es spricht gegen unsere Presse insgesamt, gegen den Zustand unserer Gesellschaft; es spricht mit einem Wort gegen uns.“ Ähnlich äußerte er sich über die FAZ, „das Frankfurter Allgemeine Geröchel“.

Der Spiegel steckte die Attacke locker weg, indem er den Essay nachdruckte. Enzensberger wurde zu einem Starautor des Magazins, der für seine Texte schon mal 30.000 D-Mark einstrich. Er schaffte das Kunststück, ein Etablierter zu sein und trotzdem seinen Ruf als Freigeist zu bewahren. 

Da er vom real-existierenden Sozialismus nie etwas gehalten hatte, hatte er von den bundesdeutschen Intellektuellen am wenigsten zurückzunehmen, als dieser kollabierte. Doch die neue Situation überforderte auch ihn. In seiner Reaktion auf den Golf-Krieg 1991 brach tatsächlich der Flakhelfer-Impuls durch. Zur politischen und geostrategischen Argumentation außerstande, setzte er – ganz bundesrepublikanisch – auf eine hypertrophierte Moral. Spiegelbildlich zu den pazifistischen Kriegsgegnern in Deutschland, die „Kein Blut für Öl“ skandierten, verteidigte er die amerikanische Intervention mit der Begründung, der irakische Diktator Saddam Hussein sei ein „Feind des Menschengeschlechts“. In dem Spiegel-Essay „Hitlers Wiedergänger“ vom Februar 1991 wollte er erklärtermaßen „zeigen, daß die Rede von Saddam Hussein als einem Nachfolger Hitlers keine journalistische Metapher, keine propagandistische Übertreibung ist, sondern das Wesen der Sache trifft“. Tatsächlich zeigte sein Text lediglich, daß die Bundesrepublik sich selbst in ihren freien Geistern erschöpft hatte.

Der 1993 erschienene Essay „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ läßt sich als Versuch lesen, den einige Monate zuvor erschienenen „Anschwellenden Bocksgesang“ von Botho Strauß ins Alltagstaugliche zu übersetzen. Er erreicht nicht dessen Tiefe, enthält aber interessante Beobachtungen auf der Mikroebene: „Der molekulare Bürgerkrieg beginnt unblutig, seine Indizien sind harmlos. Es mehrt sich der Müll auf den Straßen, im Park findet man häufiger Spritzen und zerbrochene Bierflaschen, die Wände werden mit Graffiti beschmiert. In den Grünanlagen und Hausfluren beginnt es nach Urin zu stinken.“ Dieser Krieg wird ziellos geführt von den „Allzuvielen, denen alles abhanden gekommen ist“; er entspringt einem ideellen Vakuum. Was Enzensberger nicht voraussah, waren der Fanatismus, die Entschlossenheit und die Stringenz, die religiöse Fundamentalisten und aktuell die Klima-Krieger entwickeln sollten. 

2011 meldete er sich mit dem Essay „Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas“ nochmals in Freigeist- und Querdenker-Manier zu Wort. Er kritisierte die EU als eine „erbarmungslos menschenfreundliche“ Herrschaftsform, durch die „wir gründlich betreut und umerzogen werden“.

Enzensberger war natürlich ein Linker Einer, den man ernst nehmen mußte und mögen konnte. Sein Wirken wird treffend durch ein Epigramm von Karl Kraus charakterisiert: „Mein Wort berührt die Welt der Erscheinungen, die darunter oft leider zerfällt. Immer noch meint ihr, es geht um Meinungen, aber der Widerspruch ist in der Welt.“ 

Hans Magnus Enzensberger: Versuche über den Unfrieden. Suhrkamp, Berlin 2015, broschiert, 183 Seiten, 12 Euro

Hans Magnus Enzensberger: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Suhrkamp, Berlin 1988, gebunden, 282 Seiten, 16,80 Euro