© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

„Anschwellender Bocksgesang“ und die Sprache der AfD
Millionen von Hungerleidern
(wm)

Auch nach gefühlt tausend polemischen Repliken taugt Botho Strauß’ bald dreißig Jahre alter Essay „Anschwellender Bocksgesang“ immer noch dazu, linke Gemüter in Wallung zu bringen. So fühlt sich der Medientheoretiker Gerhard Schweppenhäuser (Hochschule Würzburg) in der neomarxistischen Zeitschrift Das Argument (Nr. 338/2022) einmal mehr kulturpolitisch herausgefordert, „Trennlinien zu ziehen“. Nicht so sehr durch den Essay selbst, den er milieutypisch als ein Stück „obskurantistischer Gegenaufklärung“ denunziert. Vielmehr durch jene linksliberalen Verwandten im Geiste, die wie der Zeit-Feuilletonist Thomas Assheuer zwar gegen die mit dem „Bocksgesang“ offenkundig gewordene „politische Verfinsterung“ des Autors zetern, jedoch die an Theodor W. Adorno geschulte „hellsichtige Diskurskritik“ von Strauß’ frühen Theater- und Prosatexten loben. Solche Wertschätzung stehe weiterhin im Bann der einflußreichen Doktorarbeit von Helga Kaußen, die 1991 das Prosawerk „Rumor“ (1980) als „Kritik der kommerzialisierten, warenförmig gewordenen Medienkultur“ deutete, die Adornos Aufklärungs- und Zivilisationskritik zeitgemäß fortsetze. Schweppenhäuer hingegen vertritt in seiner „Revision“ dieser Lesart die These, daß viele „Rumor“-Passagen den „Bocksgesang“ nahezu wörtlich vorwegnehmen. Bereits dort sieht der Protagonist „Millionen von Hungerleidern aus aller Welt in unser glaubensschwaches und unterbevölkertes Land“ eindringen. Im „Bocksgesang“ verwandeln sich diese Millionen dann in „Horden von Unbehausten, Unbewirtbaren“. Da spreche Strauß schon 1993 „die Sprache der AfD“. 

 https://argument.de