© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Telefonat mit C., der mit seiner Frau zu den allerersten Parteimitgliedern der Grünen zählte und die beide mit dem Paar Petra Kelly und Gert Bastian befreundet waren. Als ich ihnen von der Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung erzähle, die unter der Losung „Zurück in die Zukunft“ zu einem „Diskurs“ zum 75. Geburtstag der grünen Vordenkerin und Galionsfigur Petra Kelly geladen hat, zu der unter anderem die Jungpolitikerin Ricarda Lang, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, oder Clara Duvigneau, Pressesprecherin von „Fridays for Future“, angekündigt sind, entfährt es C. seufzend: „Die arme Petra, was die alles aushalten muß.“


Das gilt auch für die Erwartungen an den Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft, der – seltsam – von allen Moderatoren des Deutschlandfunks wie „Cutter“ ausgesprochen wird. Als ich kurz vor WM-Beginn vom Bier-Ausschankverbot für den Fifa-Kooperationspartner Budweiser höre, denke ich augenblicklich: „Die Welt zu Hause beim – Club der anonymen Alkoholiker.“ Als ich den Witz im Postladen an der Ecke vortrage, werde ich mit dem russischen Begriff für Fernsehverbot belohnt: „Njetflix“. Bei den wiederholten Nachrichten über die Verfolgung der jungen Menschen nach den Protesten in der Volksrepublik China, Mutterstaat der Corona-Diktatur, denke ich: „Zeigt her eure Smartphones, die Filme, Bilder, Chats – und seht eurer Überwachung zu.“ Einen anderen, unreinen Reim, kann ich mir darauf nicht mehr machen.

Das Unentschieden der deutschen Fußball-Nationalmannschaft hat derweil Symbolcharakter.

Auch meiner Tante kommt einiges spanisch vor, abermals macht sich jemand von hinten an ihrem Rucksack zu schaffen. Während es vor Wochen dem Täter noch gelungen war, das Portemonnaie zu entwenden, dieses aber – da meine Tante sich plötzlich umdrehte – vor Schreck fallen gelassen hatte, hob er es verdutzt auf und drückte es meiner Tante in die Hand. Diesmal, auf Höhe der Gethsemanekirche, ist es eine junge Frau, die den Rucksack meiner Tante öffnet – und sich, als diese sich umdreht, wortreich in Spanisch zu erklären versucht.


Das Unentschieden der deutschen Fußball-Nationalmannschaft am Abend zuvor hat derweil Symbolcharakter, wenn ich an die neue Doppelpaßregelung der Bundesregierung denke. Um die Ecke, hinter der Ampel, steht vor der Rewe-Filiale noch der Aufsteller für das Fußball-Sammelalbum, davor – abwechselnd – eine Zigeunerin oder der Pole, der seit über einem Jahr um Geld bittet, um im nächsten Monat zur Beerdigung seines Bruders zu fahren. Wenn dieses tagtägliche Engagement nicht bereits nach drei Jahren mit dem deutschen Paß belohnt wird, weiß ich auch nicht – oder doch: Wie wäre es mit einem Laufpaß? Schließlich ist die Welt in Bewegung – und der Queen-Song „One Vision“, wo bereits „One Love“ propagiert wurde, erscheint nur mehr als Farce. Real dagegen sind die sechs polnischen LKW-Fahrer, die, wie ich im Lottoladen erfahre, die auf der Autobahn festklebenden „Aktivisten“ – Luisa Neubauers postulierte „zivilgesellschaftliche Arbeitsteilung“ beim Wort nehmend –  einfach von der Straße gerissen haben.