© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

WG der Verdammten
Kino I: Das Existenzdrama „Mehr denn je“ zeigt Szenen des Abschiednehmens vor malerischer Kulisse
Dietmar Mehrens

Da spielt man die männliche Hauptrolle in einem Film über das Sterben, und wenig später ist man selber tot. „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“, würde Gaspard Ulliel in Anlehnung an den bekannten Roman von John Green vermutlich sagen, wenn er noch eine Chance hätte, die seltsamen Fügungen eines rätselhaften Geschicks zu kommentieren.

In „Mehr denn je“ von Emily Atef spielte der Franzose an der Seite von Vicky Krieps den kerngesunden Ehemann einer todgeweihten Frau. In Wahrheit war er der Todgeweihte: Kurz nach Abschluß der Dreharbeiten zu dem Film, der jetzt in die deutschen Kinos kommt, erlag Ulliel im Januar 2022 den schweren Verletzungen, die er sich bei einem Skiunfall zugezogen hatte. 

Eine meditative Reflexion über Schicksalsschläge

In meditativen Bildern erzählt die in Berlin geborene und in Los Angeles aufgewachsene Regisseurin, die 2018 mit ihrem intensiven Romy-Schneider-Porträt „Drei Tage in Quiberon“ einem größeren Publikum bekannt wurde, von einer Frau auf der Suche nach sich selbst unter Umständen, die man seinem schlimmsten Feind nicht wünscht: Hélène (Vicky Krieps) leidet an einer ebenso tückischen wie unheilbaren Krankheit, der idiopathischen Lungenfibrose, die nach Ablauf einer Gnadenfrist dazu führen wird, daß ihre Lungen die Funktion einstellen. Das absehbare Ende: Tod durch Ersticken.

Zermürbt vom Warten auf ein Spenderorgan sucht die junge Frau im Internet nach Menschen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden wie sie und stößt auf den Norweger Bent (Bjørn Floberg). Der hat unter dem Pseudonym „Mister“ Bilder ins Netz gestellt, die Hélène ansprechen, neugierig machen. Irgendwann wird der 33jährigen, die mit ihrem Mann Mathieu (Gaspard Ulliel) in Bordeaux lebt, klar, daß sie die tödliche Krankheit in ihrem bisherigen Umfeld nicht bewältigen kann. Sie besucht Bent in Norwegen. Der zurückgezogen lebende, etwas kauzige Mann läßt sie bei sich in einem malerisch gelegenen Haus direkt am Fjord wohnen. „Die Lebenden können die Sterbenden nicht verstehen“, sagt er. Aber sie, die beiden Todgeweihten, verstehen sich – und bilden eine WG der Verdammten.

In der frischen Luft am Fjord findet Hélène auf bisher nicht gekannte Weise zu sich, fühlt sich endlich wieder in ihrem Körper zu Hause. So versucht sie es ihrem Mann zu erklären, der seiner Frau, beunruhigt durch Hélènes langes Fortbleiben, schließlich nachreist. Gemeinsam erleben sie ein paar unbeschwerte Tage. Doch das, was ihm Hélène schließlich mitzuteilen hat, trifft ihn wie ein Keulenschlag.

Emily Atef wollte mit der Wahl ihres Drehortes am Fjord zeigen, „daß die Natur größer ist als wir selbst – größer als Hélène und ihre Krankheit“. Das ist gelungen. Die Regisseurin, die in Berlin zwei Gehminuten von ihrer Hauptdarstellerin entfernt wohnt, hat einen berührenden Film über das Abschiednehmen und das letzte Luftholen vor diesem Abschied geschaffen, der wohltuend auf Theatralik und Exzentrik verzichtet. Bei ihr liegt in der Ruhe die Kraft.

Ihrer Hauptfigur weicht Atef nicht von der Seite. So entstand eine stille, intensive Studie über eine junge Frau in den Grenzzonen des Daseins, eine meditative Reflexion über unabwendbare Schicksalsschläge, die schließlich zu einem Requiem wurde, in dem Filmfiktion und Wirklichkeit einander begegnen: Die letzte Einstellung des Films zeigt Gaspard Ulliel, wie er auf einem Boot verschwindet.

Kinostart ist am 1. Dezember 2022