© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Die Rebellion haben sie nur gespielt
Rockmusiker: Links geblinkt, aber oft Richtung Establishment abgebogen
Oliver Busch

Rock ’n‘ Roll war die lautstarke Begleitmusik eines tiefgreifenden soziokulturellen Wandels, der die westlichen Industriegesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg erfaßte. Über Jahrzehnte hinweg – und viele ihrer Konsumenten sehen das heute noch so – stand sie für die Herausforderung des Status quo, die subversive Absage ans Establishment, die Rebellion gegen die kapitalistische Konsumwelt und ihre Werte, für irgendwie links, progressiv, emanzipatorisch. 

In Tobias Beckers Studie „Rock-Musik und die Kulturen des Konservativen“ (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 3/2022) bleibt von solchen Klischees wenig übrig. Und zwar nicht allein deshalb, weil der Historiker Becker (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam) Rock- und Pop-Musik als Teil jener „Kulturindustrie“ begreift, die die bildungsbürgerlichen Spaßbremsen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ (1947) als tragende Säule des Bestehenden verhöhnen: „Vergnügtsein heißt Einverstandensein“.

Es fällt Becker auf seinem Gang durch die Rock-Geschichte zwischen 1955 und 1989 leicht, das Verdikt der beiden Häupter der „Frankfurter Schule“ mit Selbstzeugnissen überwiegend männlicher, weißer Rockmusiker zu untermauern, die sich „angepaßt“ haben. Doch ihm geht es nicht nur um weitere Belege für die kaum noch originelle These, Rock sei stets eher „systemrelevant“ als oppositionell gewesen. Darüber hinaus zielt seine historische Inspektion auf die Pointe, daß Rock oft nicht einmal lupenrein links war, sondern im Gegenteil konservativ, reaktionär oder schlicht rechts.

Generationskonflikt mit popkulturellen Mitteln ausgetragen

Daß Rock überhaupt mit Rebellion identifiziert wurde, geht auf dessen Anfänge in den 1950ern zurück. Damals profilierte sich die neue Sozialfigur des Teenagers als wichtigster Abnehmer einer Musik, deren elektrische Verstärkung es erlaubte, „sonische Schocks“ auf der Tanzfläche und – vor allem in den USA – „moralische Panik“ auszulösen. Doch die provozierend hohen Lärmpegel, neue Tanz- und Ausdrucksformen wie auch filmische Inszenierungen der Rockszene mit „Halbstarken“-Typen wie Marlon Brando, James Dean oder Horst „Hotte“ Buchholz täuschten nicht darüber hinweg, daß hier nur ein stinknormaler Generationskonflikt mit popkulturellen Mitteln ausgetragen wurde. So wild, enthemmt und lasziv, wie sich viele der frühen Stars auf der Bühne gebärdeten, um „Rebellen “ zu mimen, so bieder traten sie privat auf. Der wohl berühmteste unter ihnen, Elvis Presley, bekannte sich brav zu bürgerlichen Werten, zu Religion und Familie. Mit seinen Konzerten habe er nichts anderes gewollt, als Fans „a good time“ zu verschaffen. Schon zeitgenössische Soziologen hätten darum in der Rockszene kein Potential für Aufstände gewittert, sondern sie als sozialpsychologisch nützliches Ventil für den kontrolliert abzulassenden Dampf jugendlicher Frustrationen erkannt.

Erst Mitte der Sechziger, im Kontext der sich zwischen Berkeley und West-Berlin austobenden Studentenbewegung, begann Rockmusik sich nun tatsächlich zu politisieren. „MUSIC IS REVOLUTION“, skandierte der Rock-Poet John Sinclair 1968 in Großbuchstaben und verklärte Rock zur Hauptwaffe der „Kulturrevolution“. Ähnliches beteten linke deutsche Feuilletonisten herbei. Wenn Rock für sie vielleicht auch nicht identisch war mit „Revolution“, schien er ihnen dazu doch ein probates Mittel zu sein. „In diesen Jahren“, so schreibt Detlef Siegfried in seinem Standardwerk „Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre“ (3. Auflage 2017), „konnte sich als ‘progressiv’ verstehen, wer die ‘richtige’ Musik hörte.“ Allein der Musikgeschmack, die Präferenz für Rock gegenüber anderen musikalischen Stilen, Pop, Country, Schlager, artikulierte eine politische Haltung und ein fortschrittlich-linkes Selbstverständnis – das viele Liedtexte allerdings gar nicht rechtfertigten.

So trug der Song „Revolution“ der Beatles den Umsturz zwar im Titel, wollte aber in keiner Textzeile etwas davon wissen – zumindest insofern Gewalt dafür erforderlich gewesen wäre. Was die vier Liverpooler Plattenmillionäre in den Augen der linken Internationale nachhaltig diskreditierte. „Es gab einmal eine Zeit, wo man die Beatles für die Avantgarde einer Kulturrevolution hielt.“ Diese Zeit sei vorbei, wetterte 1968 ein Artikel in der DKP-nahen Postille Konkret unter der kernigen Überschrift „Scheiß-Beatles“. Um dazu einen Kontrapunkt zu setzen und wenigstens seine Person von diesem Odium des Reaktionären zu befreien, habe sich John Lennon außerhalb der Bühne zunehmend radikalisiert. Doch das ihn ausspähende FBI wußte es besser: Als Revolutionär könne er niemals gefährlich werden, da er ständig unter dem Einfluß von Narkotika stehe. 

Wer von den Beatles enttäuscht war, richtete also Hoffnungen auf die Rolling Stones, deren „Streetf Fighting Man“ den idealen Soundtrack für Demos und Straßenschlachten zu liefern schien. Im Gespräch mit dem Spiegel stellte jedoch auch deren Aushängeschild Mick Jagger 1970 klar: „Ich singe nicht von Revolution.“ Für Becker eine repräsentative Aussage: „Anstatt den Status quo herauszufordern, stützten ihn diese Bands, indem sie allenfalls Lippenbekenntnisse beisteuerten, sonst aber Teil einer kapitalistischen Musikindustrie waren, an der sie gut verdienten.“

Damit bestätigten sie zugleich, was der Musikhistoriker Dominic Sandbrook der britischen Popkultur attestiert: Sie habe von jeher eine „inhärente Konservativität“ ausgezeichnet. Die Adelstitel für Sir Paul McCartney oder Sir Mick Jagger sowie deren den britischen Landadel imitierender Lebensstil hätten das Rebellenimage endgültig ruiniert. „Bequemen wir uns zu der Einsicht“, resümierte 1970 ein desillusionierter Henryk M. Broder, „daß die Musik, die wir lange als unsere progressive, linke, bewußtseinsfördernde und -erweiternde Musik gefeiert haben, nichts anderes ist als ein längst integrierter Teil des Show-Business.“

Konservative gaben ihre Ablehnung von Rockmusik auf 

Aber es sollte noch schlimmer kommen für jene Masse der Fans, die auf diese geschäftstüchtigen Pop-Titanen weiterhin politische Sehnsüchte projizierten. Zum einen mußten sie in den siebziger Jahren als Reflex einer internationalen Nostalgie-welle starke, jeglichem Avantgardismus abholde Retro-Strömungen in der Rockmusik erleben. Zum anderen kam mit dem Punk ein Subgenre auf, das lauter, wilder, engagierter links als das Original sein und sogar als „Anti-Thatcher und Anti-Reagan“ wahrgenommen werden wollte. Ein Anspruch, der nie eingelöst worden sei, wie Becker urteilt. „Am ehesten wäre Punk wohl als libertär und anarchisch zu charakterisieren. Oder sogar konservativ?“ 

Am Ende sei es in den Siebzigern aber nicht der Punk-Rock gewesen, der das linke Weltbild der Szene am meisten irritierte, sondern eine 1976 während eines Konzerts Enoch Powell dargebrachte Huldigung Eric Claptons. Ausgerechnet dieser Rock’n Roller, dessen Kompositionen ohne Inspirationen schwarzer Musiker undenkbar sei, habe sich die Aussagen von Powells gemeinhin als „rassistisch“ geschmähter Parlamentsrede „Rivers of Blood“ (1968) zu eigen gemacht, in der der konservative Politiker vor den langfristig zum Bürgerkrieg eskalierenden Folgen der Masseneinwanderung nach Großbritannien gewarnt hatte. „Stop Britain from becoming a black colony. Get the foreigners out. (…) Keep Britain white“, brachte Clapton Powells Botschaft auf den Punkt. 

In den achtziger Jahren registriert Becker eine weitere, wenn auch teils widersprüchliche Annäherung politischer Positionen von Rockmusikern, ihren Fans und Konservativen. Rock kam als Begleitmusik evangelikaler Gottesdienste in Mode, und das republikanische Establishment schwor auf Rockmusik, wenn es galt, breite Wählerschichten zu agitieren. Bruce Springsteens „Born in die U.S.A.“ ließ sich daher 1984 vorzüglich für die Kampagne zu Ronald Reagans Wiederwahl nutzen. Der eigentlich US-kritische Text ging im patriotischen Refrain unter. Seither sei es nur konsequent gewesen, wenn auch alle konservativen Parteien des Westens ihre in den Achtzigern ohnehin schon laue Ablehnung von Rockmusik sukzessive aufgaben. Zumal die von David Bowie bis U2 reichende Liste der 50 Titel, die die National Review 2006 als „konservativ“ empfahl, wiederum mit dem Gütesiegel „Rebellion“ lockte. Wenn Rockmusik partout rebellisch sein sollte, dann konnte sie auch gegen den progressiven Mainstream rebellieren.

Foto: Einmaliger Auftritt: Eric Clapton, John Lennon, Mitch Mitchell, Keith Richards (v.l.n.r.) im Dezember 1968. Die Supergruppe nannte sich The Dirty Mac und spielte bei einer Fernsehsondersendung mit dem Titel „The Rolling Stones Rock and Roll Circus“