© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

WM-Sportberichterstattung in ARD und ZDF
Im Sinne der Herrschaft
Claus-Peter Becke

Wer Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ heute noch einmal liest, nachdem sich seit seinem Erscheinen im Jahr 2008 die gesellschaftlichen Zustände in der Bundesrepublik Deutschland grundlegend verändert haben, den beschleicht ein Unbehagen, das nur noch euphemistisch ein solches genannt werden kann. Es ist vielmehr eine Beklemmung, verbunden mit der zunehmenden Befürchtung, daß dieses Land und seine einstmals beinahe schon vorzeigeliberal zu nennende politische Ordnung zerstört werden. Wie entsteht ein solcher Eindruck?

Wer die Hauptfiguren des Romans, die im inneren Widerstand lebenden bürgerlichen Intellektuellen, während des Lesens in ihrem Alltag begleitet, wird erfahren, wie sie mit ihren liberalen, einem kultivierten Milieu entstammenden politischen Vorstellungen vom Leben und vom politischen Handeln innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung auf ein bretthart sich abschottendes, vor Gewaltanwendung jeder Art, sei diese psychischer oder physischer Natur, nicht zurückschreckendes System prallen.

Legitimiert wird dieser Zwang zur Verteidigung des Systems gegen seine Feinde durchaus überzeugend, was an verschiedenen Stellen im Roman gut ablesbar ist, etwa wenn erklärt wird, daß alles, was geschieht, der Abwehr der Kräfte gelte, die sich zum Ziel gesetzt haben, die DDR in Frage zu stellen, die doch kein anderes Ziel vor Augen habe, als den Menschen ein lebenswertes, ihre Rechte achtendes, würdiges Leben in einer sozialistischen Gesellschaft zu ermöglichen. Wer sich in diesem System zu Hause fühlte, hat diese Erklärung und die mit ihren Grundsätzen übereinstimmende Berichterstattung über das Land und die Welt gutgeheißen. Wer nicht, fühlte sich verloren, wie die Familien im Roman.

Was läßt sich daraus über die Gegenwart, in der wir heute leben, lernen? Einiges. Und es kann hilfreich sein, sich zunächst einmal in Bereichen umzusehen, die vermeintlich recht harmlose Ereignisse zum Gegenstand haben, wie die Berichterstattung über eine Fußballweltmeisterschaft in einem arabischen Zwergstaat, der unter skandalösen Bedingungen – vermutlich durch Stimmenkauf – in den Genuß gekommen ist, inmitten der Wüste in einem Land, das bis dahin kaum irgendeine engere Verbindung zum Fußball hatte, eine WM austragen zu können.

Eine Analogie zwischen dem, was den Bürgern der DDR widerfahren ist, und dem, was wir heute 32 Jahre nach deren Untergang in der Bundesrepublik erleben, läßt sich am Beispiel der Berichterstattung von ARD und ZDF über die WM in Katar veranschaulichen.

Um diese Analogie überzeugender hervortreten zu lassen, sei zunächst einmal leicht gegen den Strich gebürstet und auf unsere politische Verhältnisse übertragen dargestellt, wie die Bundeszentrale für politische Bildung auf ihrer Website die „Ideologisierte Sportberichterstattung“ der DDR beschreibt. Die DDR und ihre Organe werden durch die Bundesrepublik und und die zu ihr gehörenden Institutionen ersetzt. „Rechtes Denken“ tritt an die Stelle der „imperialistischen Ideologie“. Und die „Menschenrechte“ verdrängen die „objektive historische Wahrheit“. Dann liest sich ursprüngliche Text mit den entsprechenden Veränderungen jetzt folgendermaßen: Ziel der Berichterstattung der Medien, vor allem von ARD und ZDF, nicht zuletzt in der Sportberichterstattung, ist auch die Vermittlung gesellschaftspolitischer Inhalte. Sport wird als nicht von den gesellschaftlichen Verhältnissen loszulösender politischer Gegenstandsbereich betrachtet. Vor allem sind die allgemeinen gesellschaftspolitischen Werte und Grundsätze der Bundesrepublik auf dem Gebiet des Sports zu transportieren – also ein fester gegen Konservatismus auftretender Standpunkt, wokes Denken, Verwirklichung von aufgeklärten Haltungen und Abwehr „rechten Denkens“ aus dem abzulehnenden konservativen Lager. Die Vermittlung dieser Werte ist Teil des informatorischen Auftrags der Massenmedien, Aufklärung zu betreiben, um den Menschen die „Menschenrechte“ zu verkünden und sie zu aufgeklärten Persönlichkeiten zu erziehen. Zum politischen Auftrag der BRD-Sportberichterstattung gehört gemäß der Haltung der die Medien bestimmenden Gruppen auch die Auseinandersetzung mit den „Rechten“ im Sport.

Die Berichterstattung von ARD und ZDF anläßlich der Fußball-WM in Katar erscheint wie eine unmittelbare Umsetzung dieser fiktiven Direktive. Ist das zu behaupten nun eine unzulässige Verunglimpfung und Infragestellung der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, zu deren nicht unbedeutenden Spiegeln ja Fernsehanstalten wie ARD und ZDF gehören? Oder handelt es sich bei der Behauptung, die WM-Berichterstattung des „Sportstudios“ entspreche den funktionellen Grundsätzen, die auch die Sportberichterstattung der DDR geleitet haben, um eine zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit?

Nehmen wir uns des Themas des Konflikts um die Kapitänsbinde der deutschen Nationalmannschaft an. Worum geht es dabei? Der DFB hat es für angemessen gehalten, den Kapitän der Mannschaft die „One Love“-Binde tragen zu lassen. Diese Binde soll die „Regenbogen“-Binde ersetzen, um Zustimmung und Unterstützung der LGBTQ-Bewegung zu signalisieren. Um es noch einmal ausdrücklich zu sagen: Es geht ausschließlich darum, Sympathie dafür zu bekunden, daß alle wie auch immer gearteten sexuellen Orientierungen offen und unbeschränkt gelebt werden dürfen.

Sich sexuell nach seinen je individuellen Prägungen zu orientieren ist ein Recht, das jedem selbstverständlich zusteht. Niemand darf in einer liberalen Gesellschaft daran gehindert werden, seine sexuellen Neigungen zu leben.

Nun läßt sich aber die Gesellschaft Katars wohl nicht als liberal bezeichnen. Vielmehr ist sie geprägt von einem muslimischen Fundamentalismus, der aus religiösen Gründen andere Formen der Sexualität als die Heterosexualität verpönt. Das wußte und weiß wohl jeder, der mit offenen Augen durch die Welt geht. Aber ZDF-Reporter machen sich auf den Weg, sich als investigative Journalisten zu profilieren, wenn sie katarische Funktionäre verleiten, außerordentliche Dummheiten auszusprechen wie die, daß Homosexualität eine „Sünde“ sei, weil sie auf einem „mentalen Defekt“ beruhe.

Aus der Öffentlichkeit entspringt umgehend ein nicht minder törichter Aufschrei der Entrüstung: „ein Weltbild aus einer vergangenen Zeit“, „wider die Menschenrechte“. Worin besteht die Dummheit des Funktionärs? In einer schon das Gemeingefährliche berührenden Unfähigkeit, klar zu denken! Etwas als eine Sünde zu kennzeichnen ist ein religiöses Urteil, das auf einem religiös-moralischen System von Grundsätzen beruht. Ein organischer oder psychischer Defekt ist ein natürliches Ereignis oder Zustand. Auch mentale Akte sind Bestandteil einer faktisch erlebten Wirklichkeit, gehören also zu dem, was ist, nicht zu dem, was sein soll. Ein Sollen, also eine in einem moralischen Urteil sich aussprechende Forderung an unser Verhalten, ist nun nicht mit einem Sein zu begründen. Das zu tun ist der naturalistische Fehlschluß, den zu vermeiden jeder Philosophiestudent im ersten Semester lernt.

Daß der Funktionär so spricht, weist ihn als jemanden aus, der nichts anderes tut, als seine unreflektierten, auf religiösen Grundsätzen beruhenden Vorurteile zu reproduzieren. Die Dummheit des Funktionärs besteht in der sachlich absurden Begründung seiner Ablehnung der Homosexualität, nicht darin, daß er sie ablehnt. Niemand sollte gezwungen werden können, mit seinen Überzeugungen unvereinbare sexuelle Orientierungen gutzuheißen.

Wie können wir Europäer uns anzumaßen, andere zu verurteilen, weil sie nicht unsere Wertvorstellungen teilen? Sicherlich wäre es wünschenswert, wenn homosexuellen oder anderen Neigungen vorurteilsfrei begegnet würde. Aber zu einer liberalen Einstellung gehört auch, hinzunehmen, daß andere Kulturen von den eigenen abweichende Vorstellungen pflegen.

Statt dessen erleben wir eine Berichterstattung, die sich letztlich aufgrund ihrer inneren Widersprüche als sachwidrig entlarvt. Wenn die Kataris darauf bestehen, daß die internationalen Gäste ihre Lebensform respektieren, indem sie andere als die heterosexuelle Lebensform nicht öffentlich propagieren, ist das ihr gutes Recht als Gastgeber. Ein wohlerzogener Gast hat das zu beachten! Es handelt sich nicht um eine Verletzung eines Menschenrechts, Werbung für die LGBTQ-Bewegung nicht zuzulassen.

Warum dann aber die Aufregung in ARD und ZDF? Tatsächlich wird wahrgenommen, daß von den Medien propagierte Vorstellungen im Konflikt miteinander liegen. Daß in Katar Werbung für die LGBTQ-Bewegung untersagt ist, ist vor allem dadurch begründet, daß das Land ein muslimisch geprägter Staat ist, in dem bestimmte Formen der Sexualität als nicht akzeptabel gelten.

Nun gehört es zu den Zielen der Berichterstattung von ARD und ZDF, die Chancen der hiesigen multikulturellen Gesellschaft, die insbesondere um islamisch geprägte Bevölkerungsanteile vermehrt wird, hervorzuheben und ihren weiteren Ausbau zu fördern. Es zeigt sich aber, daß Konflikte, die zwischen muslimisch geprägten Grundsätzen und solchen einer liberal orientierten Gesellschaft aufbrechen können, den inneren Widerspruch aufdecken, den die Bundesregierung, tatkräftig unterstützt von ARD und ZDF, tagtäglich dringlicher vor Augen führt.

Die Bundesregierung setzt diese Gesellschaft einem beispiellosen Experiment aus. In einer atemberaubend kurzen Zeit von weniger als einem Jahrzehnt wird der Anteil einer Bevölkerung, die bis dahin kaum einen Berührungspunkt mit der hierzulande über Jahrhunderte gewachsenen Kultur und den zu ihr gehörenden Lebensformen besessen hat, in erheblichem Umfang vergrößert. Dieses Experiment kann gelingen. Dann ist alles gut. Und wenn nicht? Keiner der verantwortlichen Politiker hat auf diese Frage wohl eine Antwort, weil derzeit unvorstellbar ist, welche Konsequenzen drohen.

Trotz alledem lassen ARD und ZDF sich nicht davon abhalten, ihren gesellschaftspolitischen Auftrag in Abstimmung mit den Zielen der Bundesregierung weiterzuverfolgen. Sie reden häufig interessierten politischen Kreisen und gesellschaftlichen Gruppen das Wort. Die Bundesregierung liefert staatliche Institutionen wie Referatsleitungen und Positionen höchster politischer Beamter Interessengruppen aus (vgl. JF 43/22, Thorsten Hinz, „Unter der Maske des Dienens“). In Ansätzen ist das vergleichbar mit der Art, wie einst die SED den Staatsapparat als unter ihrer Verfügungsgewalt stehend behandelt hat. Das sind Entwicklungen, die eine liberale Demokratie bedrohen.

Noch präsentiert sich unser Staat als parlamentarische Demokratie, innerhalb derer Gewaltenteilung ein verläßlicher Garant freier politischer Willensbildung ist. Aber es lauern Gefahren. Wenn der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang (CDU), die Mitglieder einer Vereinigung, von der Alexander Dobrindt (CSU) zu Recht sagt, daß sie das Potential enthalte, Keimzelle einer grünen RAF zu werden, für „staatstragend“ hält, indem er hervorhebt, wie sehr die „Letzte Generation“ seiner Meinung „dieses System respektiert“, während er vor allem die Mitglieder der politischen Rechten für solche hält, die „die Gesellschaft in Frage stellen“, dann zeigt sich, in welche Richtung sich dieser Staat entwickelt.

Wohlgemerkt, Haldenwang sieht es als Indiz für eine rechtsextremistische Gesinnung an, die „Gesellschaft in Frage zu stellen“. Und Gesellschaft, das sind alle Kräfte und Menschen, die in diesem Staat zusammenleben. Letztlich wird damit von einem weisungsgebundenen politischen Beamten die Kritik an der Politik der Weisungen erteilenden aktuellen Regierung stigmatisiert. Und all das wird ohne einen Aufschrei der Empörung  wohlfeil von ARD und ZDF übermittelt. Das läßt vielleicht nachvollziehbar werden, wie sich die Familien in Tellkamps Roman gefühlt haben, wenn sie abends vor dem Fernseher saßen und „Sport aktuell“ geschaut haben.






Dr. Claus-Peter Becke, Jahrgang 1953, pensionierter Oberstudienrat für Philosophie, Deutsch und Informatik, wurde in Hamburg bei Prof. Ewald Richter promoviert und arbeitete von 2001 bis 2010 als teilabgeordnete Lehrkraft am Interdisziplinären Zentrum der Christian-Albrechts-Universität Kiel.

Foto: Die Fußball-Nationalmannschaft Deutschlands setzt ein Zeichen in Katar: Was gilt als angemessen im Haus eines fremden Gastgebers?