© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Geprägt von Preußens tiefer Spur
Arvid von Bassis mustergültig faire Biographie des Historikers Karl Dietrich Erdmann
Oliver Busch

Sein Biograph Arvid von Bassi stellt uns den 1990 verstorbenen Kieler Historiker Karl Dietrich Erdmann zunächst vor als einen der bedeutendsten Vertreter seiner Disziplin, den das 20. Jahrhundert hervorgebracht habe. Um trotzdem nach 400 Seiten seiner Leben und Werk hell ausleuchtenden, überwiegend mustergültig objektiven Darstellung, die anscheinend jedes Blatt Papier aus dem umfangreichen Nachlaß beachtet hat, zum ernüchternden Fazit zu kommen: „Was bleibt? Nicht viel.“ 

Denn wer heute Geschichte studiere, dem sei der Name Erdmann kein Begriff mehr, weil der traditionell auf Ereignisgeschichte, auf Staaten und Staatslenker fixierte „politische Historiker“ methodisch und konzeptionell kein „innovativer Vordenker“ gewesen sei. Sein Opus magnum, der der „Zeit der Weltkriege“ gewidmete Beitrag zu Gebhardts „Handbuch der deutschen Geschichte“, 1959 erstmals erschienen, der bis in die 1970er hinein Kohorten angehender Geschichtslehrer mit dem „Zeitalter der Extreme“ vertraut machte, ist überdies längst durch andere Monographien ersetzt und in Vergessenheit geraten. Und an seine einst so einflußreichen Interpretationen zu den deutschen Kriegszielen im Ersten Weltkrieg, zur Novemberrevolution oder zum Scheitern der Weimarer Republik erinnere sich bestenfalls noch, wem sie als Gymnasiasten vor 1980 vermittelt worden sind. 

Für von Bassi ist dieses Phänomen, wissenschaftlich überholt zu werden, ein generelles Los gerade jener Historiker, die sich wie Erdmann hauptsächlich mit Problemen der jüngeren politischen Geschichte befassen. Sei es doch auf diesem Feld unmöglich, sich dem jeweils herrschenden Zeitgeist zu entziehen, so daß ihre Deutungen stets durchsetzt sind mit dem ideologischen Vorverständnis ihrer eigenen Epoche. Rankes Ideal, zu schildern, „wie es eigentlich gewesen“ ist, läßt sich daher von einem 1910 geborenen Historiker wie Erdmann am allerwenigsten erfüllen, dessen Forschungsinteresse sich ausgerechnet auf die Weltkriegsära richtete, der er durch Zeitgenossenschaft so eng verbunden war.  

Unversöhnliche Gegnerschaft zum Hamburger Historiker Fritz Fischer

Aber dem Biographen von Bassi ist solche lebensweltliche Abhängigkeit des Geschichtsbildes kein Manko. Im Gegenteil: er weiß sie fruchtbar zu machen, um exemplarisch vorzuführen, wie sich die Einstellung zur Vergangenheit in der alten Bundesrepublik innerhalb von nur zwei Historikergenerationen fundamental veränderte. Waren für Erdmann und seine Altersgenossen Volk und Staat, Nation und Reich Fluchtpunkte ihres Geschichtsdenkens und sinnstiftende Höchstwerte ihres Daseins, konnten deren Schüler, die „Flakhelfer“, die nach 1968 die westdeutschen Lehrstühle für Geschichte besetzten, mit diesen Ordnungsidealen kaum noch etwas anfangen. Wie unüberwindlich tief der Graben geworden war, veranschaulicht von Bassi mit einem anekdotischen Detail aus Erdmanns Kölner Schulzeit: 1925 sei er mit bündischen Kameraden zur „Wallfahrt“ aufgebrochen, um auf Friedhöfen die Gefallenen der Befreiungskriege von 1813/1815 zu ehren. 

Erzogen in dieser „Erfahrungsgemeinschaft“, beeindruckt von der politischen Romantik konservativer Revolutionäre vom Schlage des zeitlebens verehrten Ernst Jünger sowie, ebenso nachhaltig, vom „nationalen Sozialismus“ des rechten Sozialdemokraten und Reformpädagogen Adolf Reichwein, bildete das nationale Denken über alle Zäsuren hinweg den festen Kern von Erdmanns Geschichtsauffassung. Nie habe er aufgehört, „persönlich tiefen Schmerz über den Untergang des deutschen Nationalstaats“ zu empfinden. Nicht verwunderlich war es daher, wenn seine Distanz zu den jüngeren Kollegen sich auch deshalb in dem Maß vergrößerte, wie er unbeirrbar am Ziel der Wiedervereinigung festhielt, während etwa ein Eberhard Jäckel, der bekannteste seiner Schüler, die deutsche Teilung opportunistisch beflissen als „Strafe für Auschwitz“ akzeptierte. 

Zuspruch für das Festhalten am Nationalstaat erntete Erdmann kurz vor dem Mauerfall nur noch von Altersgenossen. Darunter der einstige ideologische Widersacher Ernst Engelberg, der Doyen der DDR-Geschichtswissenschaft, mit dem er sich einig wußte in der Bewunderung für den Reichsgründer Otto von Bismarck. Der Marxist Engelberg sprach ihm daher aus der Seele, als er Hans-Ulrich Wehlers vom nationalmasochistischen Furor befeuerte Schmähung seiner monumentalen Bismarck-Biographie souverän als „volksfremdes Gerede“ abtat. Auch der Hamburger Emeritus Fritz Fischer, Jahrgang 1908, der ihn seit der Kontroverse um die deutsche Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs unversöhnlich haßte, nahm im letzten Gefecht, das Erdmann ab 1985 für seine Ansicht schlug, Österreicher und Deutsche gehörten gemeinsam zum deutschen Volk, Partei für den Kieler Nachbarn. Es erfülle ihn mit tiefer Trauer, daß in Österreich „links und rechts von vielen Jüngeren jede historische und sprachlich-kulturelle Bindung an eine deutsche Vergangenheit geleugnet“ werde, „ja als potentieller Hochverrat“ erscheine.

Das so gezeichnete Porträt des deutschen Patrioten Karl Dietrich Erdmann rundet von Bassi durch die Konturierung von „Preußens tiefer Spur“ ab, die sich durch diese Biographie zieht: Ungeachtet seiner rheinischen Herkunft habe der Habitus des entschiedenen Lutheraners doch sein protestantisch-preußisches Korsett verraten. Selbstdisziplin, Dienst- und Leistungsbereitschaft, Opferwille, Tapferkeit, Ehre und Vaterlandsliebe galten ihm nicht wie vielen nachrückenden 68ern in seinem Fach als „Sekundärtugenden“, sondern, frei nach dem Böckenförde-Paradox, als für den Bestand eines staatlichen Gemeinwesens unentbehrliche Voraussetzungen, auf denen es ruht, die es aber nicht schaffen kann.   

Für Hugo von Hofmannsthal ist das wahre Leben eines Menschen eine „äußerst vage, schlecht definierbare Materie“. Es ist der Vorzug dieser lediglich im Schlußteil, in der Skizzierung der bescheidenen Unterstützung Erdmanns für Ernst Nolte im „Historikerstreit“, auf sehr niedriges Niveau abrutschenden Arbeit, daß der Autor dieser Einsicht unbewußt folgt und Erdmann als Historiker präsentiert, dessen Persönlichkeit und Wirken nicht ins Schwarz-Weiß-Schema zu pressen ist. So steht neben dem von liberalen Gelehrten wie dem Theologen Rudolf Bultmann geformten sozialkonservativen Nationalisten ab 1933 der zur Bekennenden Kirche haltende, jeglichem Antisemitismus und allem Rassendenken abholde NS-Gegner, der seine akademische Karriere kurz vor der Habilitation aufgibt. Und der trotz seiner Ablehnung der Hitler-Diktatur 1939 „zur Fahne“ eilt, um als Infanterieoffizier mitzuhelfen, erst an Polen und Frankreich die „Rache für Versailles“ zu vollstrecken, um dann an der Front vor Leningrad bis 1944 gegen den Bolschewismus zu kämpfen.

Geblieben ist aus diesen Weltkriegsjahren neben dem Faible für alles Militärische das in seinen Veröffentlichungen kolportierte Bild von der „sauberen Wehrmacht“ sowie die lange mehrheitsfähige Erzählung, der Holocaust sei die vor dem deutschen Volk verborgene Untat einer kleinen Verbrecherclique gewesen. Geblieben sind ihm aus dem Scheitern des deutschen Großmachttraums aber vor allem drei „Lehren aus der Geschichte“, die der bis 1978 an allen Schaltstellen seiner Zunft sitzende Ordinarius, als hyperaktiver Vortragsredner, Autor, Wissenschaftsmanager und CDU-Politiker  einem riesigen Publikum nahebrachte: Das Heil der Bundesrepublik liege in der autoritären Kanzler-Demokratie, in der europäischen Integration und in der atlantischen Westbindung.

Arvid von Bassi: Karl Dietrich Erdmann. Historiker, Wissenschaftsorganisator, Politiker. Verlag de Gruyter/Oldenbourg, Berlin 2022, gebunden, 464 Seiten, 69,95 Euro