© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Von großen Brüdern und dummen Jungen
Gestützt auf Stasi-Akten und das britische „Mitrochin“-Archiv wird das Verhältnis der Geheimdienste MfS und KGB beleuchtet
Jürgen W. Schmidt

Der vormalige deutsche Geheimdienstchef Oberst Walter Nicolai schrieb einmal, daß Geheimdienste keine Freunde haben, sondern nur zeitweilige Partner. Das scheint sich bei der Lektüre der acht Aufsätze zu bewahrheiten, welche eine Projektgruppe der Stasi-Unterlagenbehörde unter Leitung von Douglas Selvage anfertigte. Dazu wurden einerseits die wenigen noch vorhandenen Unterlagen der Hauptverwaltung Aufklärung, aber auch anderer Organisationseinheiten des MfS genutzt. 

Die Rollen von Herr und Vasall blieben stets gewahrt

Die Auffassung des KGB zur Zusammenarbeit mit der Stasi ließ sich anhand des sogenannten „Mitrochin-Archivs“, nunmehr Bestandteil des Churchill-Archivs an der Cambridge University in England und für Nutzer frei zugänglich, überprüfen. Oberst Mitrochin war Archivar im KGB und konspektierte klammheimlich viele tausend Akteneinheiten der Auslandaufklärung des KGB, bevor er 1992 nach England überlief. Gewisse, sorgfältig ausgewählte Teile seiner Aktenkonspekte sind bereits 1999 und 2006 als zweiteiliges „Schwarzbuch des KGB“ auch auf Deutsch erschienen. Selvage und seine Mitstreiter kommen in ihren Studien zur Erkenntnis, daß das „Mitrochin-Archiv“, gemeint ist dessen vieltausendseitiger, unpublizierter schriftlicher Nachlaß, recht gut mit den noch vorhandenen MfS-Akten zusammenpaßt. Es fällt aber unangenehm auf, daß man in der Stasi-Unterlagenbehörde nach über dreißig Jahren kaum mit der einst vollmundig angekündigten computergestützten Restaurierung der 1989 eilig zerrissenen, aber noch vorhandenen Stasiakten voranzukommen scheint. 

War bis 1958 der KGB eindeutig der Herrscher im Hause Staatssicherheit der Herren Erich Mielke und Markus Wolf, so wurde das MfS im erwähnten Jahr formell selbständig und man arbeitete fürderhin „brüderlich“ zusammen. Der KGB sorgte natürlich dafür, daß er stets Herr der Lage blieb und das MfS seinen Vasallenpflichten nachkam. Aus dem Mitrochin-Archiv geht hervor, daß beispielsweise im Jahr 1975 von allen Informationen, welche dem KGB von seinen sozialistischen Partnerdiensten zugingen, allein 65 Prozent vom MfS stammten. 

Zudem pflegte Erich Mielke die schöne Sitte, an hohen sowjetischen Feiertagen, beispielsweise zu runden Jubiläen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, dem KGB nicht nur besonders wichtige Informationen von der Spionagefront untertänigst zu überreichen, sondern parallel dazu auch wichtige IM des MfS zur künftigen Nutzung an den KGB abzugeben. Eine besondere Spezialität des KGB waren seine „Illegalen“. Das waren langjährig ausgebildete KGB-Agenten, welche mit gut gefälschten Papieren und Legenden im Westen eingeschleust wurden. Hier war das MfS besonders eifrig tätig, auf Wunsch des KGB geeignete DDR-Bürger mit fremdsprachlicher und fachlich-technischer Qualifikation zu suchen und an den KGB weiterzureichen. 

Zudem beteiligte man sich seitens des MfS aktiv an Fälschungen von Geburtsregistern und  standesamtlichen Dokumenten in der DDR und auch im befreundeten Ausland bis hin nach Mosambik, um verstorbenen DDR-Bürgern bzw. in der DDR langjährig aufhältigen, verstorbenen Ausländern illegitime Kindern anzudichten, die dann legal und mit echten westlichen Papieren und Staatsbürgerschaften versehen, zwecks „Familienzusammenführung“ zu Spionageaufgaben ausreisen konnten. 

Peinlich berührt war man jedoch im Hause Mielke immer genau dann, wenn man hin und wieder auf den Umstand stieß, daß der KGB trotz aller Bruderliebe das MfS wie einen dummen Jungen behandelte und hinter dem Rücken des MfS Spionagestrukturen in den Bezirksbehörden der Volkspolizei unterhielt, von wo aus man den Westen, aber auch die politische Entwicklung in der DDR (Operation „Lutsch“) genau im Auge behielt. Cornelia Jabs hat eine derartige, dem MfS lange verborgen gebliebene KGB-Spionage-Residentur, angesiedelt im „Forschungszentrum Werkzeugmaschinenbau“ in Karl-Marx-Stadt, beschrieben. Leider werden dreißig Jahre nach der Wende nun „datenschutzrechtliche“ Gründe vorgeschoben, um für den KGB tätige DDR-Wissenschaftler nur unter Pseudonym zu nennen. Daß es im Verhältnis zum KGB auch ganz anders ging, zeigt der von Georg Herbstritt und Mieszko Jackowiak beschriebene „Sonderweg“ der rumänischen Securitate im Verhältnis zum KGB. Überflüssig zu erwähnen ist, daß das MfS sich an der Securitate kein Beispiel für den Umgang mit dem KGB nahm, sondern brüderlich mit dem KGB zusammen das sozialistische Rumänien auszuspähen begann.

Für die heute noch erscheinenden Blätter für deutsche und internationale Politik ist es hingegen kein Ruhmesblatt, daß man sich seinerzeit in den siebziger Jahren vom MfS einige Artikel und Aufsätze unterschieben ließ, mit denen der sowjetische Nobelpreisträger, Physiker und Menschenrechtler Andrej Sacharow im Westen diskreditiert werden sollte. Hier handelte das MfS auf direkte Bitte der KGB-Führung und nutzte seine guten Verbindungen in linke Kreise der Bundesrepublik, wo man ebenso arg- wie ahnungslos die KGB-Propaganda akzeptierte und verbreitete.  

Douglas Selvage, Georg Herbstritt (Hrsg.): Der „große Bruder“. Studien zum Verhältnis von KGB und MfS 1958 bis 1989. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022, gebunden, 364 Seiten, Abbildungen, 25 Euro