© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Die Frage nach der Richtung
Die Minderheitenproblematik in der Ukraine als schwere Hypothek aus der Stalinzeit
Reinhard Mummelthey

Die heutige Ukraine ist ein Staat, der aus sehr unterschiedlichen historischen Gebieten zusammengesetzt ist. Während der Westen die meiste Zeit zu europäischen Königreichen gehört hat (vor allem Polen-Litauen und Österreich, kleinere Teile zu Ungarn und Rumänien), wurde der Osten über viele Jahrhunderte überwiegend aus Moskau oder Istanbul (Krim, Donbass und das Gebiet zwischen der Krim und dem Donbass) regiert. Auf diese historischen Wurzeln gründen sich heute die verschiedenen ethnischen Minderheiten. So leben auf der Krim viele Tataren, im Karpatenoblast Ungarn und im Oblast Tschernowitz Rumänen. Die knapp zwei Millionen Polen, die noch bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in der Westukraine gelebt haben, sind zum größten Teil seit 1945 aufgrund der alliierten Beschlüsse in Jalta nach Polen zwangsumgesiedelt worden. Nur eine Minderheit von etwa 350.000 Polen konnte in der Ukraine verbleiben. 

Nach 1945 sind hingegen auch etwa zwei Millionen Ukrainer, vor allem aus dem Donbass und der Ostukraine, in die Westgebiete in Wolhynien und Galizien umgesiedelt worden. Das hat danach die Russifizierung des Donbass wesentlich gefördert. So dokumentieren die Zahlen eine signifikante Zuwanderung ethnischer Russen erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Darin gründen viele Probleme, die spätestens seit dem Krieg im Donbass von 2014 deutlich sichtbar hervorgetreten sind. Zusätzlich erschwert die Lage bis heute, daß viele Grenzen innerhalb der Sowjetunion durch Willkürentscheidungen Josef Stalins gezogen worden sind. Diese sind in der Regel nicht ethnographischen Gesichtspunkten gefolgt, sondern waren ausschließlich nach machtpolitischen Erwägungen beabsichtigt. 

So hinterließ Stalin in seinem Testament die Aussage, daß Grenzen zwischen den Sowjetrepubliken immer so gezogen sein sollten, daß jede Republik große Minderheiten anderer Nationalitäten beherbergt, so daß eine staatliche Unabhängigkeit dauerhaft nicht möglich ist und die sowjetische Zentralmacht jederzeit in die Lage versetzt wird, in separatistische Regionen einzumarschieren und damit jede Unabhängigkeitsbestrebung zu ersticken. 

Diese Hypothek hat sich alseine entscheidende Ursache für den derzeitigen Krieg in der Ukraine herausgestellt und war zudem auch einer der Gründe, daß Rußland 2008 in das von Stalin russisch besiedelte Abchasien im Norden Georgiens einmarschiert ist. Selbst die baltischen Staaten, besonders Estland und Lettland, aber auch Kasachstan beherbergen durch die im letzten Jahrhundert zugeströmten Russen ein Konfliktpotential, das die staatliche Einheit bedroht. Wie wenig Stalin die ethnographischen Gegebenheiten berücksichtigt hat, zeigt folgendes Beispiel: In den zaristischen Gouvernements Kursk und Woronesch hatte das ukrainische Siedlungsgebiet eine Größe von etwa 36.000 Quadratkilometern (das entspricht in etwa der Größe Baden-Württembergs) mit 1.472.000 Einwohnern (Zählung von 1897). Davon sind aber heute nur etwa 3.000 Quadratkilometer von 164.000 Ukrainern besiedelt. Der Rest kam zu Rußland trotz ukrainischer Mehrheit. Die Grenzen der allermeisten Staaten, die nach 1990 aus der untergegangenen UdSSR hervorgingen, haben sich zuvor seit der Gründung der Sowjetunion 1922 mehrfach verändert – dies immer durch das Eingreifen Stalins. Widerspenstige Minderheiten wie die Krimtataren oder Tschetschenen und Inguschen wurden einfach deportiert und zu einem Teil vernichtet. Eine einzige Ausnahme dieser von Stalin verschuldeteten Politik war der Anschluß der zuvor seit 170 Jahren zu Rußland gehörenden Krim 1954 an die Ukraine durch den sowjetischen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow im Rahmen der Feierlichkeiten zum 300. Jahrestag des Vertrags von Perejaslaw, mit dem 1654 – nach russischer Lesart – die engen Bande zwischen Rußland und der Ukraine vereinbart worden waren. 

Auch nach einem Friedensschluß bleiben etliche Probleme bestehen

Die Ukraine ist aber nicht nur durch ethnische Minderheiten gespalten. Auch das ukrainische Volk ist durch dessen Dialekte sehr verschieden strukturiert, so daß sich West- und Ostukrainer nur schwer gegenseitig verstehen können. Das hat historische Ursachen, die bis in das Mittelalter zurückreichen. Zwar wird seit 1990 versucht, den Kiewer Dialekt landesweit zu etablieren, aber das funktioniert nur begrenzt. Gewisse Dialekt-Unterschiede sind an verschiedenen Wortstämmen leicht zu erkennen. So ist das Wort für „Danke“ im Westukrainischen „Djakuje“ (polnisch: Dschienkujen), aber im Ostukrainischen Spasybi (russisch: Spasibo). Dieses Faktum erschwert auch die Aussagefähigkeit einiger Sprachstatistiken, weil das Bekenntnis zu einer Sprache auch falsch interpretiert werden kann. Zusätzlich zu der sprachlichen Diversität wirken sich in der Ukraine bis heute auch die unterschiedlichen kulturellen Prägungen aus. Die Westukraine ist eher mitteleuropäisch geprägt (sie haben zu Polen oder Österreich-Ungarn gehört), der Donbass jedoch und viele Gebiete östlich des Dnepr waren historisch meist auf Moskau ausgerichtet. 

Der Krieg zwischen Rußland und der Ukraine wird dieses Problem nicht lösen können, egal wer letztlich militärisch die Oberhand gewinnen sollte. Nach einem künftigen Friedensschluß werden etliche Probleme bestehen bleiben beziehungsweise haben sich diese sogar noch durch den Krieg polarisiert. Wahrscheinlich kann nur eine unabhängige, international kontrollierte Volksabstimmung im Donbass zeigen, wie die Menschen denken und ob sie die Zugehörigkeit zur Ukraine oder zu Rußland wollen. Allerdings gibt es selbst im Donbass keine einheitliche ethnische Struktur. Während die ländliche Provinz überwiegend ukrainisch besiedelt ist, in den kleineren Städten eine fast paritätische Situation herrscht, dominieren in den großen Städten die Russen. Es herrscht eine Situation vergleichbar mit der in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg, wo die Deutschen in den großen Städten in der Mehrheit waren, aber die Polen auf dem Land und in einigen Kleinstädten. Auf der Krim hingegen gibt es eine klare russische Mehrheit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nachdem zuvor viele Krimtataren nach Sibirien deportiert wurden. Auch die Zugehörigkeit zu Kiew nach 1991 hat an dieser Konstellation wenig geändert. Einzig etliche deportierte Krimtataren sind seitdem wieder in ihre alte Heimat zurückgekehrt, durch die Administration gab es einen begrenzten Zuzug aus der Zentral-ukraine. Die freien Wahlen, die seit der Unabhängigkeit 1991 in der Ukraine stattgefunden haben, zeigten immer wieder diesen Unterschied zwischen West- und Ostukraine auf, beziehungsweise bis zur russischen Okkupation 2015 auch auf der Krim. 

Foto. Kosakenführer Bogdan Chmelnizki erhält 1654 die Vereinigungscharta mit Rußland: Der Osten der Ukraine war oft auf Moskau ausgerichtet