© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Die Wahrheit als Volksfeind
Omri Boehm rechnet mit rechter, aber auch linker Identitätspolitik ab und träumt von einem Universalismus Kantscher Prägung
Michael Dienstbier

Eine konservative Anthropologie geht vom Menschen als Mängelwesen aus. Nahezu wehrlos dem Wüten von Natur und Schicksal ausgesetzt, bedarf er des Schutzes durch haltgebende Institutionen. Als solche haben sich Sprache, Familie, Vaterland und Religion bewährt, wie Arnold Gehlen bereits vor mehr als achtzig Jahren feststellte. Es ist das Konkrete, das die Wirksamkeit dieser Institutionen auszeichnet, Abstrakt-Utopisches kann dieses Kriterium nicht erfüllen. So gesehen stellt das neue Buch des israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm aus konservativer Sicht eine riesige Provokation dar. Mit Feuereifer wirbt er für einen moralischen, auf Kants kategorischem Imperativ basierenden Universalismus, der seinem Wesen nach abstrakt sein müsse. Zur Verwirklichung dieser Utopie, so Boehm, seien zwei Feinde zu besiegen: die Identitätskrieger von links und rechts.

Boehm ist im bundesdeutschen polit-medialen Komplex bestens vernetzt. So gehörte er im vergangenen Jahr zur offiziellen Reisegruppe des Bundespräsidenten bei dessen Staatsvisite in Israel. Dementsprechend vorhersehbar fällt seine Kritik an dem aus, was er als rechte Identitätspolitik markiert: Nationalstaat, Postulat der Ungleichheit der Menschen – und ein Verweis auf Donald Trump als Teufel in Menschengestalt darf auch nicht fehlen. Viel ausführlicher und heftiger jedoch knöpft er sich die „Identitätsliberalen“ vor, die im Namen von Postkolonialismus und Critical Race Theory die Wegbereiter eines neuen Anti-Universalismus seien: „Wenn es in der Politik nicht um Tatsachen, sondern um Gerechtigkeit geht – wenn die moralische Wahrheit einem bequemen Konsens widerspricht –, dann behandeln auch moderne Liberale die Wahrheit als genau das: als einen Volksfeind.“

Diese „moralische Wahrheit“ basiert für Boehm auf zwei Fundamenten: Kants kategorischem Imperativ und der Unabhängigkeitserklärung der USA. Gerade Kant scheint so etwas wie der persönliche Held des Autors zu sein. Dieser habe erkannt, daß die Aufklärungsbewegung entgegen landläufiger Meinung „die gefährlichste Feindin des Universalismus“ gewesen sei. Die Aufklärung sei zu sehr im Konkreten angesiedelt, sei so sehr in den historischen Voraussetzungen verwurzelt, die sie erst ermöglichten, daß sie das Ideal einer abstrakten Wahrheit bzw. eines allgemeinen Gesetzes jenseits menschlicher Konventionen überhaupt nicht habe erfüllen können. Kant, so Boehm, wäre sich zumindest im folgenden Punkt mit den heutigen Identitätslinken einig gewesen: „Scheitert die Modernisierung einer abstrakten Menschheitsidee und eines absoluten Gesetzesbegriffes, dann ist die Rede vom Universalismus Identitätspolitik für weiße Männer.“ Es ist eine Ironie der Geschichte, daß es heute gerade diese Identitätslinken sind, die Kant als alten weißen rassistischen Mann auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen wollen.

Das Scheitern seiner universalistischen Vision beschreibt Boehm am Beispiel der Sklaverei in den USA. Die im 18. Jahrhundert neu gegründete Nation sei ihrem in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 postulierten Ideal der Gleichheit aller Menschen nicht gerecht geworden. Die wenig später aus einer bestimmten historischen Situation heraus entstandene konkrete Verfassung sei stets wichtiger gewesen als das abstrakte Ideal der Unabhängigkeitserklärung. 

Bezugnahme auf ein „vormodernes, metaphysisches Weltverständnis“

Durchaus provozierend erklärt Boehm, daß die Freiheit der aus Afrika importierten Sklaven auf dem Altar von Demokratie und Rechtsstaat geopfert worden sei. Was ist nun die letzte Begründung seines moralischen Universalismus? Man gewinnt den Eindruck, Boehm würde gerne Gott sagen, erlaube sich dies aus unerfindlichen Gründen jedoch nicht. So schreibt er eher abstrakt, daß ein „vormodernes, metaphysisches Weltverständnis eine notwendige Voraussetzung“ seiner Utopie sei. Hierin ähnelt er seinem Vorbild Kant, der ja auch nicht direkt von Gott sprach, sondern dieses allgegenwärtige Etwas, das sich den Erkenntnisapparaten des Menschen verschließt, als „Ding an sich“ bezeichnete. Aber was außer Gott soll sich dahinter verbergen?

Für Boehm darf ein „Wir“ niemals der Beginn von Politik sein, sondern „lediglich ihr niemals endgültiges Resultat“. Von diesem Standpunkt aus mischt er sich regelmäßig in aktuelle Debatten ein und scheut dabei auch vor kontroversen Aussagen nicht zurück. So ist Israel für ihn ein „kolonialistischer Apartheidstaat“ und der Zionismus ein Beispiel moderner Identitätspolitik. Des weiteren beschreibt er westliche Demokratien als „für immer auf der gewaltsamen Unterdrückung anderer gegründet“. Von einem universalistischen Standpunkt aus gesehen ergeben diese Aussagen durchaus Sinn. Staaten sind nun einmal ihrem Wesen nach einem begrenzten „Wir“ – meist einem konkreten Volk – verpflichtet und nicht einer abstrakten Menschheit. Als Konservativer läßt einen diese Sehnsucht nach einem globalistisch-utopischen Ideal ratlos zurück. Die fundierte Kritik an den woken Identitätskriegern der Gegenwart gestaltet die Lektüre des Buches jedoch durchaus erkenntnissteigernd.

Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Universalismus als rettende Alternative. Propyläen Verlag, Berlin 2022, gebunden, 176 Seiten, 22 Euro