© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Von Radio bis Redneck
USA: In der Country-Musik tobt ein Kampf zwischen Woken und Traditionalisten
Eric Steinberg

Was in Deutschland höchstens noch durch Truck Stop oder Tom Astor vertreten wird, ist in den USA seit jeher ein Massenphänomen: Country-Musik. Doch auch in den Staaten hat sich das Genre in den vergangenen Jahren stetig weiterentwickelt und neue Zielgruppen erobert. Immer mehr junge Künstler strömen auf den Markt und vermischen die traditionelle Musik mit Pop-Elementen, die nur noch wenig mit dem Sound von Johnny Cash und Willie Nelson gemein haben. 

Musiker wie Sam Hunt oder Dustin Lynch, die sich seit 2010 neuen Einflüssen wie Bro-Country oder Synthie-Pop-Country verschrieben haben, scheuen sich nicht davor, die ursprüngliche Identität des Genres immer weiter aufzulösen. Durch die Verwendung von Drum-Machine-Loops und Snap-Sounds gleichen sie sich den Erfolgen in den amerikanischen Billboard-Charts an und verfangen sich in kitschigen Klischees. „Ich kenne jede Kurve wie meinen Handrücken“, heißt es beispielsweise im Song „Body Like a Back Road“ von Sam Hunt, der sinnbildlich für die Pop-Vertreter der Countryindustrie steht. Doch es geht noch seichter: Mit King Calaway wurde 2018 sogar eine Boyband zusammengestellt, um die Dollarnoten einzutreiben. Authentizität: Fehlanzeige.

Pop-Mainstream oder konservative Patrioten

Von schnulzigen Liebesliedern bis hin zu Betonungen, wie „country“ man sei, ist für jedes Vorurteil etwas geboten. Der Künstler Hardy sang 2018 selbstironisch: „Mein Truck ist lauter als dein Truck, und mein Kragen ist ein bißchen blauer. Du denkst vielleicht, du seist ein Redneck, aber ich bin rednecker als du“. Doch die Stereotype haben Erfolg, denn sie erreichen die junge Anhängerschaft in den USA und Kanada, die aus der Popmusik allein kaum noch lyrisch hochwertige Kompositionen gewohnt ist. Angesichts dessen sind Kooperationen untereinander nicht verwunderlich. „Meant to Be“, eine Zusammenarbeit der Pop-Sängerin Bebe Rexha und des Country-Duos Florida Georgie Line, kletterte 2017 auf Platz zwei der US-Charts, wurde mit Platin ausgezeichnet und feierte auch in Europa Erfolge. Noch massentauglicher wurde es 2018: Der Rapper Lil Nas X stürmte gemeinsam mit Billy Ray Cyrus die Charts, wurde 14fach mit Platin gekürt und hielt sich in Amerika insgesamt 19 Wochen auf Platz eins: ein neuer Rekord. 

Daß sich das Genre derartig verändert hat, liegt vor allem an Shania Twain. Die Kanadierin traute sich erstmalig, grundlegend neue Einflüsse aufzunehmen und lehnte sich damit gegen die hauptsächlich in Nashville beheimatete Branche auf. Twain arbeitete mit AC/DC-Produzent Robert „Mutt“ Lang an ihren eigenen Kompositionen und modernisierte die Szene durch aufwendige Musikvideos, Wagnis in der Mode und elektronische Sounds. Das machte sie nicht nur zum Star, sondern importierte Country-Musik in die ganze Welt. Noch heute finden sich auch hierzulande Songs wie „Man! I Feel Like A Woman“ oder „That Don’t Impress Me Much“ auf den Listen der Radiosender. Das dazugehörige Album „Come on Over“ ist bis heute das meistverkaufte Album einer Solokünstlerin überhaupt. 

Doch es gibt auch bekannte Künstler, die sich an anderen Größen der 1990er Jahre wie Alan Jackson oder George Strait und deren Musikstil mit klassischen Instrumenten von Banjos über Mundharmonikas bis Geigen orientieren und dem stetigen Wandel etwas entgegensetzen. Sänger wie Luke Combs, die die „New Traditional“-Welle anführen, geben der alten und neuen Hörerschaft Hoffnung auf eine weiterhin bestehen bleibende Grundlinie. Das Revival traditionsorientierter Musik beinhaltet nicht nur den Gebrauch der typischen Instrumente, auch die Texte wirken dadurch authentischer. Selbst dann, wenn sie sich an Klischees orientieren. Denn die vorherrschenden Themen bleiben die gleichen: Trucks, Bier, Honky-Tonk-Bars und patriotische Zeilen. 

Was in der deutschen Musiklandschaft undenkbar erscheint, findet im traditionell konservativen Country seinen Ausdruck: „Wenn du die amerikanische Flagge nicht liebst, kannst du meinen Country-Arsch küssen“, heißt es im Lied „Kiss My Country Ass“ von Szene-Star Blake Shelton. 

Doch auch die Gegenseite mischt die Industrie auf. So sagte etwa der offen homosexuelle Sänger Orville Peck gegenüber dem Magazin Attitude: „Irgendwie hat sich das Stigma verdreht, wo es heißt, oh, diese Musik ist für gut angepaßte, heterosexuelle weiße Männer oder was auch immer. Und ich bin eigentlich anderer Meinung. Ich denke, daß es für Leute gedacht ist, die sich wie Freaks fühlen.“ Die nächsten Jahre versprechen spannend zu werden, welche der beiden Strömungen sich langfristig halten kann. Da auch in Amerika die Wokeness-Welle um sich greift, entwickelt sich ein Teil von Country zu einem der letzten Rückzugsorte für Traditionalisten und Konservative, während die Gegenseite sich immer weiter der Popmusik und dem Mainstream anbiedert. Die junge Generation entscheidet.