© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 49/22 / 02. Dezember 2022

Der Flaneur
Relikt der Neunziger
Paul Leonhard

Der junge Mann am Bahnsteig dürfte knapp über das Teenageralter hinaus sein. Zudem wirkt er wie aus der Zeit gefallen inmitten der in knielangen, gesteppten Jacken auf den Zug wartenden Ukrainerinnen, beige Anoraks tragenden Rentnern, einer Handvoll Jugendlicher und einem jungen Liebespaar. 

Er trägt schwarze Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln, von einem Ledergürtel mit Koppelschloß gehaltene halblange schwarze Hosen aus denen die weißen Waden ragen, und über einem roten Kapuzenpulli mit gotischer Aufschrift eine grüne Bomberjacke mit orangenem Innenfutter. Selbstverständlich sind die Haare des Burschen streng gescheitelt, soweit das bei der Kürze möglich ist. 

Kurzum ein Skinhead wie aus dem Lehrbuch. So einen habe ich brstimmt seit 20 Jahren nicht mehr auf sächsischen Kleinstadtbahnsteigen stehen sehen, und auch damals standen die nie allein herum. Als Einzelexemplar wirkt er allerdings ganz harmlos.

Die Frau blickt auf die weißen Waden und meint, sie wisse nicht, ob sie den Klimawandel gut finden soll.

Als ich mich verstohlen umsehe, ob da nicht irgendwo eine versteckte Kamera mal wieder die Sachsen vorführen solle, entdecke ich eine junge Frau, die die Szenerie ebenfalls beobachtet – ganz im Gegensatz zu ihrem Begleiter, der seine Nase tief in ihrem Haar vergraben hat, denn die beiden sind einander in einer innigen Umarmung verbunden. Wenngleich sie über seine Schultern mit großen Augen zusieht, wie der Skinhead plötzlich seine Jacke auszieht und sorgsam über einem Stoffbeutel ablegt. 

Dann zieht er auch noch das enganliegende Kapuzenshirt aus. Er hat seine Mühe damit und für mehrere Sekunden wird ein wabbliger weißer Bauch sichtbar, ehe er sich die Bomberjacke wieder überzieht und das herausgerutschte Shirt unter den Gürtel stopft. 

Offenbar war ihm einfach nur zu warm geworden. Der Mann neben mir brubbelt, immer noch in die Haare seiner Angebeteten versunken, aber laut genug, daß ich es höre. 

„Das mit dem Klimawandel ist ganz schöner Mist, hat aber immerhin den Vorteil, daß es nicht mehr ganz so kalt wird.“ Sie starrt immer noch auf den dicklichen jungen Mann und dessen weiße Waden, dann antwortet sie: „Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll.“