© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

„Moralkapital aller Deutschen“
Bürgerengagement: Der ehemalige DDR-Oppositionspfarrer Harald Bretschneider hat ein bemerkenswertes Zeitzeugenprojekt auf die Beine gestellt / Nun droht es an der Ignoranz von EKD und Politik zu scheitern
Moritz Schwarz

Herr Bretschneider, warum habe ich bisher nichts von Ihrem Zeitzeugenprojekt gehört?

Harald Bretschneider: Weil wir dringend benötigte Fördergelder – obwohl bereits versprochen und beschlossen – nie erhalten haben und wir es also weder wie geplant umsetzen noch bewerben können.

Um was geht es bei „Glaube, Mut und Freiheit in der DDR und danach“?

Bretschneider: Dieses einmalige Projekt (siehe auch Seite 7) soll in Form dokumentarischer Interviews mit maßgeblichen Zeitzeugen die ganze Dimension des christlichen, wenigstens aber protestantischen Widerstands in der DDR darstellen. Ebenso wie dessen entscheidenden Anteil daran, der Friedlichen Revolution den Weg gebahnt zu haben. Und es soll all das angesichts einer vergeßlichen Gegenwart präsent halten. 

Und warum gibt es dafür keine Förderung? 

Bretschneider: Das fragen Sie mal die EKD und die Politik. 

Ist der christliche Beitrag in der heute üblichen Darstellung der Dinge denn überhaupt unterrepräsentiert?

Bretschneider: Aber eindeutig. Ebenso wie die Einsicht, daß die Stärke des Glaubens, der Mut zum aufrechten Gang und der Verzicht, sich selbst zu vergöttern, den Bürgerrechtlern erst die Kraft zum Widerstand gaben.  

Wie bedeutend war der christliche Anteil nach Ihrer Ansicht?

Bretschneider: Dies verdeutlicht etwa der Umstand, daß, als 1990 erstmals wieder frei gewählt wurde, in Stadträte, Kreis- und Landtage mitunter bis zu siebzig Prozent Christen einzogen. Natürlich verteilt auf verschiedene Parteien. Doch ihr Anteil war merklich höher als ihr Bevölkerungsanteil von etwa 35 bis 40 Prozent.

Aber war die Revolution angestoßen zu haben nicht Verdienst der Bürgerrechtler, also der DDR-Linken, die einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ wollten?

Bretschneider: Genau das zeigt, wie wichtig unser Projekt ist! Denn tatsächlich kam ein wesentlicher Teil der Bürgerrechtler aus dem christlichen Bereich. Wobei natürlich auch von solchen aus anderen Milieus wichtige Impulse kamen. Aber Ihre Frage zeigt die typisch einseitige Vorstellung der Dinge, die aus unserer Sicht unhaltbar, leider aber sehr verbreitet ist und die es geradezurücken gilt. 

Nämlich? 

Bretschneider: Tatsächlich gab es von Beginn an in der DDR Widerstand aus den Reihen der Kirche. Etwa nahmen Christen intensiv am Widerstand gegen die Kollektivierung von Landwirtschaft und Handwerk durch LPGs und PGHs teil. Ebenso beteiligten sie sich in besonderem Maße am Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Oder sie widersetzten sich in Form der Jungen Gemeinden – informelle Zusammenschlüsse junger Christen – dem Zugriff der SED. Denn die beanspruchte, im Glauben, Religion sterbe spätestens mit dem Ableben der älteren Generationen aus, die Jugend für sich, die sie in der FDJ zusammenzufassen suchte und daher neben dieser keine kirchliche Jugendorganisation duldete. Bis 1953 ging die SED wiederholt politisch rabiat gegen die Kirchen vor. Erst mit dem sogenannten Neuen Kurs nach Stalins Tod duldete sie diese dauerhaft – versuchte aber weiter Christen, die sich nicht konform zeigten, aus der Gesellschaft zu drängen, indem sie sie benachteiligte, wenn nicht schikanierte, besonders Engagierte mit der Stasi terrorisierte oder ins Gefängnis steckte.

Inwiefern aber führte das zur Friedlichen Revolution? 

Bretschneider: Indem von der Kirche beständig Impulse des Widerstands gegen den Allmachtsanspruch der SED und für die Veränderung der Gesellschaft ausgingen, früh auch für die Entwicklung, die 1989 ihren berühmten Höhepunkt fand. So hatten ab 1980 infolge der von mir maßgeblich initiierten Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ die Jungen Gemeinden großen Zulauf auch aus nichtchristlichen Familien. Und wie Pilze aus dem Boden sprossen oppositionelle Friedens-, Umwelt-, Menschen- und Frauenrechtsgruppen, die sich unter dem Dach, also im Schutz der Kirche organisierten und oft entscheidend angeregt waren durch jenes prophetische „Schwerter zu Pflugscharen“. Denn das bezeugte biblische Wort machte deutlich, daß es einen Herrn der Welt gibt – während die Ulbrichts, Honeckers & Co früher oder später von der Bühne abtraten. So kam es zur Entschüchterung der Bürger gegenüber den Mächtigen, zum Verfall ihrer Autorität. 

Warum mauserte sich gerade Ihre Parole zum Motto der DDR-Friedens- und Oppositionsbewegung? 

Bretschneider: Eben weil es die Worte eines biblischen Propheten sind, es sich also nicht um eine angreifbare politische Parole handelte. So konnten die vor allem jungen Leute, indem sie das Motto zeigten, ihren Widerspruch auf eine vordergründig unpolitische Art ausdrücken. Zumal wir den Satz mit dem Bild der Plastik eines sowjetischen Staatskünstlers kombinierten, die einen Mann zeigt, der ein Schwert zur Pflugschar schmiedet. Es geht aber bei „Glaube, Mut und Freiheit in der DDR und danach“ nicht um mich, ich bin nur einer von vierzig Christen, deren Wirken und Erleben es dokumentiert.

Warum gerade vierzig?

Bretschneider: Weil für mehr die Mittel fehlen – ja, wir können nicht einmal die vierzig finanzieren. 

Sie sagten „dokumentiert ist“, also sind sie abgedreht.

Bretschneider: Ja, weil die Filmfirma NFP, die wir mit der Umsetzung des Projektes beauftragt haben, die ersten vierzig in Vorleistung produziert hat – nun aber wegen Streichung der Förderung auf zwei Dritteln der Kosten sitzengeblieben ist. 

Wie sollte das Projekt denn aussehen, wenn die Fördergelder geflossen wären?

Bretschneider: Geplant waren achtzig bis hundert Interviews sowie das Projekt öffentlich bekannt zu machen. Wer es sich in seiner jetzigen Form ansehen will, kann das über unsere Seite www.glaube-mut-freiheit-ddr.de tun, wo man zu den bereits geführten Interviews weitergeleitet wird.  

Ist das Ganze nicht eigentlich Aufgabe der extra für so etwas geschaffenen „Bundesstiftung Aufarbeitung“?

Bretschneider: Leider gibt es bei dieser offenbar eine recht unterschiedliche Wahrnehmung bezüglich der Kraft und Wirkung des Glaubens und des Einsatzes der Christen für die Freiheit und Einheit. 

Sie meinen, die Stiftung stellt die Historie falsch dar? 

Bretschneider: Selbstverständlich gestehen wir ihr ihre Sicht der Dinge zu und natürlich sind wir nicht so vermessen, uns im Besitz der alleinigen Wahrheit zu wähnen. Aber dennoch sehen wir die Dinge anders – und sind daher zum Schluß gekommen, daß wir selbst für die angemessene Dokumentation des christlichen Anteils sorgen müssen.

Wer ist „wir“?

Bretschneider: Der Förderverein „Glaube, Mut und Freiheit in der DDR und danach“, der unser gleichnamiges Projekt trägt und von Christen gegründet wurde, die sich schon früher für sein Anliegen eingesetzt haben.

Müßte so ein Projekt nicht von der EKD, statt von einem kleinen privaten Verein ausgehen? 

Bretschneider: Als wir ihn 2018 aus der Taufe hoben, waren einige von uns in landeskirchlichen Funktionen, ich etwa im sächsischen Landeskirchenamt tätig. 

Aber offensichtlich hat weder die EKD noch eine Landeskirche sich seitdem das Projekt zu eigen gemacht. 

Bretschneider: Leider – doch haben wir auch Unterstützung erhalten, so bedachten uns Landeskirche und Freistaat Sachsen mit je etwa 20.000 Euro, weil unser Projekt sie überzeugt hat. Dennoch enttäuscht uns, daß die EKD es trotz unzähliger Gespräche und schier unendlichen Werbens nicht einmal mit 70.000 bis 150.000 Euro zu fördern bereit ist – obwohl uns das ihr damaliger Vorsitzender Heinrich Bedford-Strohm zugesagt hatte.  

Weshalb wurde die Zusage nicht eingehalten?

Bretschneider: Das weiß ich nicht. 

Was vermuten Sie? 

Bretschneider: Mittel sind natürlich begrenzt, und offenbar waren der EKD andere Dinge wichtiger. So fiel die Förderung des Projekts unglücklicherweise in die Zeit, als sie verstärkt Geld zur Rettung Schiffbrüchiger im Mittelmeer benötigte. 

Und das kritisieren Sie? 

Bretschneider: Nein, die Rettung von Menschen an sich ist wichtig. Doch halte ich es für unverantwortlich, den Flüchtlingsstrom so noch anzufachen, womit die Zahl derer, die unterwegs umkommen erst recht steigt. Verantwortungslos ist es auch mit Blick auf die Herkunftsländer, denen so ein Teil ihrer Besten genommen wird und in denen sich durch den Einsatz im Mittelmeer ja nichts verbessert – sowie in Hinblick auf unser eigenes Land, das sein demographisches Problem nicht auf Kosten anderer, sondern aus eigener Kraft lösen sollte.   

Es ist natürlich das Recht der EKD, Geld für dieses oder jenes auszugeben. Aber gilt nicht – erst recht unter Christen –, daß man hält, was man verspricht? 

Bretschneider: Doch, natürlich. 

Hat Bischof Bedford-Strohm wenigstens angerufen oder geschrieben, um sich zu entschuldigen und zu erklären?  

Bretschneider: Leider nein. 

Was halten Sie davon? 

Bretschneider: Nun, was uns weit mehr schmerzt: Daß der Haushaltsauschuß des Bundestags 2020/21 eine viel höhere Förderung von 1,23 Millionen Euro bewilligte – die wir aber auch nie erhalten haben. 

Warum das? 

Bretschneider: Formal weil das Projekt zum Zeitpunkt der Bewilligung unzulässigerweise bereits begonnen gewesen sei. Was aber so nicht stimmt, denn es war in Vorbereitung, ja, doch nicht begonnen, da noch kein Interview geführt worden war. 

Selbst wenn, wäre das bei entsprechendem politischem Willen wirklich ein Hinderungsgrund gewesen? 

Bretschneider: Ich denke nicht. 

Also was vermuten Sie – „soll“ Ihr Projekt vielleicht gar nicht verwirklicht werden?     

Bretschneider: Nein, ich sehe eher eine andere Gewichtung der Notwendigkeit als bösen Willen.  

Die Förderung gestrichen hat das Amt der CDU-Staatsministerin Monika Grütters, Merkels Beauftragte für Kultur und Medien. Enttäuscht es Sie, daß gerade die C-Partei Sie im Stich gelassen hat?

Bretschneider: Nein, denn Sie mißverstehen das Projekt völlig, wenn Sie meinen, es sei nur für Christen von Belang. Im Gegenteil soll es deutlich machen, daß der christliche Widerstand ein wertvolles Erfahrungs- und Moralkapital aller Deutschen ist, gleich ob sie glauben oder nicht. Denn es geht um das Erleben von Diktatur, Willkür und Mitläufertum, um die Fähigkeit, sich zu verweigern, den Mut zu finden, aufzustehen – für die Freiheit und Einheit unseres Volkes. Es geht also nicht in erster Linie um Vergangenheit, sondern um unsere Zukunft – darum, die heutige und künftige Generationen zu ermutigen, ihr Wertebewußtsein zu stärken, ihnen ein Beispiel zu geben, an dem sie sich entwickeln können. Zudem provoziert es jene, die die Geschichte umdeuten und fordert gedankenlose Verächter der religiösen Dimension des Lebens heraus, nachzudenken. Deshalb geben wir auch nicht auf, sondern sammeln weiter Spenden, um so viel wie möglich umzusetzen. Die Friedliche Revolution war schließlich Ergebnis eines wunderbaren Zusammentreffens von geschichtlicher Entwicklung, dem wachsenden Mut der Bürger sowie dem Geschenk und Ausdruck von Gottes Güte.






Harald Bretschneider, der ehemalige sächsische Landesjugendpfarrer, geboren 1942 in Dresden, gilt als einer der wichtigsten Initiatoren und Ideengeber der DDR-Friedensbewegung. Er ist Sprecher des Projekts „Glaube, Mut und Freiheit in der DDR und danach – wie Gott uns ermutigt, geleitet und bewahrt hat: Zeitzeugen berichten von ihren Erfahrungen als Christen“.

Foto: Mitwirkende Zeitzeugen: (von oben und links) J. Gauck (1/1), Harald Bretschneider (1/2), Uwe Holmer (1/3), Hansjörg Weigel (1/4), Eberhard Heiße (1/5), Ehrhart Neubert (1/7), Christoph Wonneberger (1/9), V. Lengsfeld (2/5), Richard Schröder (2/9), Ulrike Poppe (3/5), Theo Lehmann (4/3), Ruth Misselwitz (4/5), Heinz Eggert (4/6), Almuth Berger (4/7), Marianne Birthler (4/8) u.v.m.