© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Trotz des Russ’ kaum ein Schuß
Bundeswehr: Der eklatante Mangel bei der Munition läßt sich auch mit neuen Milliarden nicht schnell beheben
Christian Vollradt

Über neun Monate schon herrscht Krieg im Osten Europas, doch von der Zeitenwende keine Spur, die der Kanzler Olaf Scholz im Bundestag nach Rußlands Angriff auf die Ukraine so groß verkündet hatte. Stattdessen spielt man Schwarzer Peter: Die Industrie beklagt, bei ihr werde allen Lippenbekenntnissen der Bundesregierung zum Trotz nichts oder nur sehr wenig bestellt (JF 48/22); das Verteidigungsministerium behauptet, die Bundeswehr könne nur bestellen, wenn das Parlament die entsprechenden Mittel freigebe; und der Chef der Kanzlerpartei SPD, Lars Klingbeil, forderte im Brustton der Überzeugung, die Rüstungsindustrie müsse jetzt aus sicherheitspolitischem Interesse die Kapazitäten mit großer Geschwindigkeit ausbauen. Und wenn sie das nicht hinbekomme, müsse man eben bei anderen Ländern innerhalb des Bündnisses einkaufen.

Ein ähnliches Bild bietet der Verteidigungsausschuß des Bundestags. Sobald die oppositionelle Union die Backen aufbläst und die Entlassung von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) fordert, wird ihr aus den Fraktionen der Ampel-Koalition aufs Brot geschmiert, welche Partei denn in den vergangenen Jahren die Verantwortlichen für dieses Ressort gestellt habe. 

„Inkonsequente Planung Ihres Hauses“

Knirschen tut es allerdings auch innerkoalitionär. Das veranschaulicht nichts deutlicher als der durchgestochene Schriftwechsel zwischen dem SPD-geführten Verteidigungsressort und dem Bundesfinanzministerium unter liberaler Hoheit. 

Nach dem im Prinzip ergebnislos verlaufenen „Munitionsgipfel“ im Kanzleramt hatte sich Lambrecht an Finanzminister Christian Lindner (FDP) gewandt und um mehr Geld für die Beschaffung von Munition gebeten. Der Adressat ließ indes seinen Staatssekretär antworten, daß nicht fehlende Finanzmittel, sondern die „teils intransparente und inkonsequente Bedarfsplanung sowie bürokratische Prozesse Ihres Hauses“ das Problen seien.

Bei vielen in Militär und Politik sorgt das Ganze nur noch für resigniertes Schulterzucken. Im Grunde weiß jeder, wo die Probleme liegen, doch den meisten ist genauso klar: Das läßt sich nicht im Handumdrehen beheben. Der jahrzehntelange Sparkurs, das Eintreiben der „Friedensdividende“, kostet seinen Preis – Fälligkeitsdatum: jetzt. Die Erkenntnis, daß der Bundeswehr in einem zwischenstaatlichen Krieg, wie er derzeit in der Ukraine tobt, schon nach zwei Tagen die Munition ausginge, mag auf Außenstehende schockierend gewirkt haben. Experten warnten vor der Mangelwirtschaft schon lange. 

Eine gut ausgerüstete Armee zu unterhalten sei nun einmal unglaublich teuer, meint ein Bundeswehr-Kommandeur schulterzuckend. 20 Milliarden Euro würde es allein kosten, die Munitionsbunker wieder zu befüllen. Aber vor allem wird klar: Selbst wenn jetzt alle formalen und finanziellen Weichen in Richtung Rüstungsoffensive gestellt würden, bräuchte es noch Jahre, bis die Depots endlich wieder voll sind und die Truppe ausreichend Gerät und Munition hätte. Denn längst hat auch die Industrie ihre Produktionskapazitäten aufgrund geringerer Nachfrage in der Vergangenheit zurückgefahren. 

Beispiel Artillerie-Munition: Die wird aus den Depots der westlichen Staaten in die Ukraine verbracht, damit sich das Land gegen die russische Invasion wehren kann. Doch während mancher Woche verschoß die ukrainische Armee fast so viele Granaten des Nato-Standards wie ein einzelnes Unternehmen in einem halben Jahr herstellen kann. Daß die Unterstützung Kiews einerseits und die bessere Ausstattung der eigenen Verbände andererseits dadurch faktisch ein Ding der Unmöglichkeit ist, muß auch der Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums öffentlich eingestehen. Moderne Artilleriegranaten seien „mit vielen elektronischen Bauteilen ausgestattet – zum Beispiel gelenkt durch GPS –, um sie zielgenauer zu machen“. Das seien „Bauteile, bei denen es an Lieferketten hängt und von denen es keine großen Vorräte oder Ähnliches gibt.“ Die müßten beschafft werden, „und das dauert seine Zeit“. So viele Munitionsfabriken gebe es in Europa schlicht nicht mehr. „Wir haben nach 1990 überall die Rüstungsindustrie runtergefahren, und dazu gehörten auch Munitionsfabriken“, so die Lageschilderung des Lambrecht-Sprechers.

Was er nicht erwähnt: Dank politischer Weichenstellungen – um nicht zu sagen: Fehlentscheidungen – wird den Herstellern hierzulande das Leben zusätzlich schwergemacht. Zum einen durch restriktive Ausfuhrbestimmungen, die nach dem Willen der Grünen im Koalitionsvertrag noch einmal verschärft worden sind. Wer aber wenig verkaufen darf und daher mit seinen Produkten kein Geld verdienen kann, für den lohnt sich die Produktion nicht. Auf die Nachfrage im Inland konnten sich Hersteller ja, den Sparmaßnahmen sei Dank, nicht verlassen.

Und dann ist da noch die Idee der „Taxonomie“. Nur solche Unternehmen, die bestimmte Kriterien in Sachen ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit gewährleisten, sollen Kredite bekommen oder in Investmentfonds aufgenommen werden. Hinten herunterfallen, welche Überraschung, Rüstungsunternehmen und Munitionshersteller. „Mindestens ein Drittel der Unternehmen hat bereits negative Erfahrung gemacht“, hatte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), Hans Christoph Atzpodien, schon im vergangenen Jahr gewarnt. Ob unter dem Eindruck der Zeitenwende wenigstens da ein Umdenken und -steuern stattfindet?

Unvorstellbar scheint hierzulande indes zu sein, worüber man bei unseren französischen Nachbarn nachdenkt: Paris, das Kiew mehrere lastwagengestützte Caesar-Haubitzen geliefert hat, steht ebenfalls vor dem Problem, die Nachfrage an Munition nicht mehr ausreichend bedienen zu können. Dort denkt nun die Regierung über ein Gesetz nach, mit dem die zivile Industrie wie zu Kriegszeiten vom Staat zur Munitionsherstellung herangezogen werden kann – auch ohne daß Frankreich formal im Krieg ist. Pate steht einem Bericht der Zeitung Le Monde zufolge ein amerikanisches Gesetz aus dem Jahr 1950, als die USA ohne ausreichende Vorbereitung auf der Seite der Vereinten Nationen in den Koreakrieg eingetreten waren und in kurzer Zeit Munition, Panzer und Geschütze brauchten.