© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Abschied der Woche
Fehlt uns was?
Vincent Steinkohl

Manche Abschiede tun richtig weh. Die erste Trennung ist so ein Fall. Erleben zu müssen, wie ein einst geliebter Mensch plötzlich im eigenen Leben nicht mehr stattfindet und fortan ein Fremder ist, kann einen Menschen für immer verändern. Und dann gibt es noch Abschiede, die niemand bemerkt hätte, wäre man nicht darauf hingewiesen worden. So wie der, den die niedersächsische Landesregierung jetzt kundtat. Nein, im Nordwesten der Republik ist nicht die Anarchie ausgebrochen, die rot-grünen Regenten haben sich lediglich von Twitter verabschiedet. „Im Laufe des morgigen Tages werden wir den Account der niedersächsischen Landesregierung löschen. Fehlende Kontrollen & mangelnde Verifizierungen führen zunehmend zur Verbreitung von Haß & Hetze, Falschinformationen & Verschwörungserzählungen. Das ist für uns nicht länger hinnehmbar“, begründete die Landesregierung ihr Vorgehen. Doch statt Tränen und Entsetzen reagierte die Mehrheit der Twitter-Nutzer mit einer Mischung aus Spott und Desinteresse. Eine Nutzerin erhielt fast 300 „Likes“, also zustimmende Rückmeldungen, für ihre Antwort: „Keiner vermißt euch. Ciao.“ Möglicherweise ist vor allem für Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), der ebenfalls seinen Account gelöscht hat, das wahre Motiv der Twitter-Löschung weniger nobel als der Kampf gegen Haß und Hetze. Der Regierungschef sitzt im Aufsichtsrat von Volkswagen, während sich Twitter seit kurzem in den Händen von Tesla-Gründer Elon Musk befindet. Der amerikanische Autobauer hat VW als Marktführer bei E-Autos in Deutschland abgehängt. Vielleicht fühlte Weil sich durch die Nutzung von Twitter allzu schmerzlich an die eigene Mittelmäßigkeit erinnert. In diesem Fall wäre ein Ende mit Schrecken sicherlich angenehmer als ein Schrecken ohne Ende.