© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Eine andere Wirklichkeit
Aufarbeitung des DDR-Unrechts: Der Verein Glaube, Mut & Freiheit hat Zeitzeugenberichte über die alltägliche Verfolgung veröffentlicht. Die Untaten bleiben so in Erinnerung
Angelika Barbe

Das biblische Wort „Schwerter zu Pflugscharen“ hat die Ideologie der DDR ausgehölt und den Staat zum Wanken gebracht. Jetzt gibt es in Deutschland ein Projekt, indem Christen über ihre persönlichen Erfahrungen in der atheistischen Diktatur berichten. 

„Glaube, Mut & Freiheit“ gibt gläubigen Zeitzeugen, die an der Friedlichen Revolution 1989 in der Deutschen Demokratischen Republik beteiligt waren, ein zwar kleines, aber trotzdem bedeutendes Sprachrohr. Es soll Erinnerungen weitergeben und für Toleranz sensibilisieren. Der Widerstand gegen die Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und ihre Erfahrungen bei der Wende sind das Band, das die hier berichtenden Christen eint. Sie sprechen über eine Zeit, in der alles Politische von der „Partei, die immer recht hatte“, vorgegeben war. 

Ein Förderverein, 2018 gegründet, initiierte, was Kirchenobere 30 Jahre versäumt haben. In 40 Kurzfilmen erzählen DDR-Bürger von ihren Erlebnissen und Widerfahrnissen, und auch davon, wie sie wurden, was sie sind. Warum ihnen Freiheit wichtig ist und weshalb sie folgenden Generationen vermitteln wollen, gegen die Ausgrenzung Andersdenkender Widerstand zu leisten.

Diesem Zeitzeugen-Projekt ist es zu verdanken, daß unterdrückte Erinnerungen, unfaßbare Äußerungen und bösartige Verhaltensweisen kommunistischer Machthaber und ihrer gehorsamen Vasallen erzählt werden. Diese Aufzeichnungen sind Zeugnisse beherzter Zivilcourage, furchtloser Wahrheitssuche und mutigen Widerstandes gegen Lüge, Betrug, Verleumdung und Repression Oppositioneller durch von der SED praktizierte „Feindbekämpfung“. Feinde, die sich nicht als solche verstanden.

Weigel war durch und durch DDR-sozialisiert – doch der Bruch kam

Die Interviews wollen den Heilungsprozeß der Gesellschaft voranbringen, obwohl eine angemessene Diagnose und Aufklärung nach 1990 nicht stattfand, geschweige denn heute vollendet werden kann. Es sind Aussagen, die es in sich haben. Dokumente ethischer Verwahrlosung verkommener Machthaber, die im „sozialistischen Arbeiter-und Bauernstaat“ – den so mancher westdeutsche Intellektuelle als „das bessere Deutschland“ wähnte – gedeihen konnten. 

Hier soll Hansjörg Weigel, der 1973 im sächsischen Königswalde ein „Christliches Friedensseminar“ gründete, zu Wort kommen. Wie kam ein junger Kfz-Elektriker auf die Idee, zu Zeiten des religionsfeindlichen sozialistischen SED-Regimes ein freundliches Umfeld für Gläubige zu schaffen? Weigel war eigentlich durch und durch DDR-sozialisiert. War in den politischen Massenorganisationen Junger Pioniere, später in der FDJ (Freie Deutsche Jugend), schoß mit Inbrunst bei der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) und weinte 1953 hemmungslos beim Tod des „Großen Stalin“, des sowjetischen Diktators. Er kam durch Zufall in die Junge Gemeinde, eine Jugendgruppe innerhalb der evangelischen Kirchengemeinde, und begann Bücher zu lesen.

In der Öffentlichkeit war es verpönt, politische Themen anzusprechen. In seiner Gemeinde  dagegen erlebte er eine andere Wirklichkeit. Es wurde diskutiert und gestritten. Zu einem ersten Zusammenstoß mit dem kommunistischen System kam es, als die Zeit des Wehrdienstes nahte. Weigel weigerte sich, als Christ eine Waffe in die Hand zu nehmen. Und wie alle in der Jungen Gemeinde hatte auch er den Mut, sich für eine offene und friedliche Gesellschaft auszusprechen. Weigel wurde Bausoldat.

Ein Stasi-Major spricht sein „Beileid“ zum Tod des Vaters aus

Später organisierte er das „Friedensseminar“ in Königswalde mit zu Beginn 27 Begeisterten. Von Anfang an war es ein Dorn im Auge der Berliner SED-Parteiführung. Hier in dem Erzgebirgsort diskutierten sie. Niemand wurde ausgeschlossen, egal welche „verrückten“ Ansichten er vertrat. Jeder war willkommen, es war ein offenes Haus.

Weigel hatte das verbotene Buch „Die wunderbaren Jahre“ des Schriftstellers Reiner Kunze, der in der DDR wegen seiner kritischen Gedichte in Ungnade gefallen war, an andere Interessierte weitergegeben. Das gab dem Staat Anlaß zur Inhaftierung.

Dienstags früh um 7 Uhr im Jahr 1980 wurde er aus der Kfz-Werkstatt geholt und zum Verhör nach Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz, gebracht. Die erste Vernehmung ging bis Mitternacht. Dabei wurde klar, eigentliches Ziel war, das Friedensseminar zu zerstören. Weigel wurde bedrängt, die Namen der Teilnehmer preiszugeben. Während der gesamten Pfingstfeiertage wurde er von früh bis spät vernommen. In dieser Verhörsituation war er „kurz vor dem Verrat“, wie er traurig bekannte. Der beteiligte Major der Staatssicherheit, der DDR-Geheimpolizei, fragte hinterhältig: „Wo wohnen denn Ihre Geschwister?“ Antwort: „Bei meinen Eltern.“ „Na, da hat es ja ihre Mutter gut, da ist sie nicht allein!“ Er setzte nach: „Ihr Vater ist gestorben, mein Beileid!“ Weigel verstand die Drohung: „Da bin ich zusammengebrochen.“

Er erzählt weiter: „Es liefen Verhöre, und damit war klar, es ging um das Friedensseminar.“ Der Staatsanwalt begann sein Plädoyer im Prozeß gegen ihn mit den Worten. „Was ist der Zweifel? Der Weigel, das war ein ganz guter Kerl, hat gut gearbeitet, hat auch im Dorf Aufbaustunden mitgemacht, ist beliebt im Ort – aber das Schlimme am Weigel ist, daß er ein Zweifler ist. Der Zweifel ist das, was unsere Gesellschaft und unser ganzes Gefüge kaputtmacht.“ Weigel bricht innerlich zusammen: „Da hätte ich nur noch weinen können, weil die, die von sich behaupten, sie vertreten die einzig wissenschaftliche Weltanschauung und gleichzeitig den Zweifel als das schlimmste und größte Gift zu bezeichnen – das zu vertreten, muß zum Scheitern verurteilt sein. Denn der Zweifel, ist das Leben.“

Der Prozeß gegen ihn geht weiter. „Dann kam ein ganz hoher Offizier herein, vermutlich der General, und drohte: ‘Wenn Sie so weitermachen wie bisher, sage ich ihnen hier an dieser Stelle: Merken Sie sich das gut: Wir haben noch ganz andere Methoden als Gefängnisse. Morgen früh werden Sie entlassen.’“

Auf Hansjörg Weigel hatte die Stasi 48 Spitzel angesetzt

1980 wurde Hansjörg Weigel unter dem Vorwurf „staatsfeindlicher Hetze“ verhaftet und drei Monate in Untersuchungshaft gehalten. Er wurde zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, saß davon aber nur zwei ab, weil sich die Amtskirche hinter ihn stellte und westdeutsche Medien seinen Fall aufgriffen. Die restliche Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Er hätte in die Bundesrepublik übersiedeln können. Er ließ sich jedoch nicht abschieben, entschied sich im Sommer 1989 gar, die Gründung einer Oppositionspartei aus dem Friedenskreis vorzubereiten.

Heute gibt Weigel zu Protokoll: „Im Oktober 1989 waren mindestens 600 bis 650 Leute in der Königswalder Kirche. Sie saßen im Kirchenschiff, auf den Emporen, auf der Treppe, auf dem Oberboden. Fast im Finstern nur mit einer einzelnen kleinen Glühlampe beleuchtet. Es war eine ganz freie Stimmung und eine sehr faire.“ Vor allem einfache Leute, Arbeiter, junge Männer und Frauen sowie viele Schüler waren versammelt. Auf das, was folgen würde, war aber niemand der Anwesenden vorbereitet. Im Gegenteil. „Ich hatte einen großen mundgeblasenen Cognacschwenker und habe immer gesagt: den Schwenker trinke ich mal aus, wenn die Mauer fällt!“ Alle haben gelacht. Niemand rechnete damit. Am 9. November 1989 abends spricht Günter Schabowski seinen historischen Satzfetzen. Und die Mauer war Geschichte.

In der Filmaufnahme schleppt Hansjörg Weigel einen großen Koffer und erklärt. „Seit 1993 habe ich die Unterlagen aus der BStU (Anm. d. Red.: Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR).“ Darin bewahrte er seine Stasi-Akte. Er sagt, vielleicht aus Angst, Dinge zu lesen, die Freundschaften zerbrechen lassen, habe er sie nicht geöffnet. „Ich hatte 48 IMs (Anm. d. Red.: „Inoffizielle Mitarbeiter“ waren Spitzel der Stasi) und habe von keinem den Klarnamen verlangt, zwei haben sich von sich aus gemeldet, und einer war offensichtlicher Spitzel.“ Bleiben 45. Hansjörg Weigel glaubt, viele hätten hinterher ihre Dummheit erkannt.






Angelika Barbe, geboren 1951 in Brandenburg an der Havel, engagierte sich ab 1986 in der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Sie beteiligte sich in verschiedenen Friedenskreisen. Am 7. Oktober 1989 gründete sie mit anderen die Sozialdemokratische Partei (SDP), für die sie im April 1990 als Abgeordnete in die erste frei gewählte Volkskammer, das Parlament der DDR, einzog. Nach Vereinigung der SDP mit der SPD war sie bis 1994 Abgeordnete des ersten gesamtdeutschen Bundestags und bis 1995 Mitglied im Parteivorstand. Aus Protest gegen eine Zusammenarbeit mit der PDS, der 1990 umbenannten SED, trat sie 1996 zur CDU über und gründete das „Bürgerbüros“ zur Beratung politisch Verfolgter. Bis 2017 war sie bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung tätig.





Erinnerungen 

Angst verbreiten, psychischen Druck erzeugen, die Familie in Sippenhaft nehmen – das sind die Tricks von Machthabern, die überzeugt sind, daß man sie nie zur Verantwortung ziehen wird. Mit der Aufzeichnung der Erinnerung der DDR-Opfer werden sie nicht aus der Schuld entlassen. Im Gegenteil. Das Projekt „Glaube, Mut & Freiheit“ umfaßt bisher 40 Interviews mit Zeitzeugen zu den Themen „Friedliche Revolution“ und „Christ sein in der DDR“. Die Reihe beinhaltet Zeugnisse mit Ex-Bundespräsident Joachim Gauck, dem Theologen Harald Bretschneider, der Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe, der Publizistin Vera Lengsfeld und dem Autoren Wolfgang Hardegen.  

 www.glaube-mut-freiheit-ddr.de

 www.revolution.sachsen.de

Fotos: Die Aufnahme vom November 1989 zeigt Menschen aus der sächsischen Stadt Colditz und Umgebung bei einem Friedensgebet in einer Kirche: Im Herbst 1989 boten Kirchen in der DDR verstärkt den aufkommenden oppositionellen Gruppen und demokratischen Bewegungen einen Raum für Diskussion und Meinungsäußerung zur politischen Veränderung; Opfer und Chronist Hansjörg Weigel: Erinnerungen weitergeben ist ein Teil der Heilung; DDR-Volkspolizisten versperren am 18.09.1989 nach dem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche den Besuchern den Weg