© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

„Immer mehr wollen weg“
Ägypten: Ein Pulverfaß, das explodieren könnte / Teil 4 des JF-Migrations-Reports
Hinrich Rohbohm

Die kleine, dunkle Gasse fällt kaum auf. Unscheinbar zweigt sie vom Menschen- und Warentrubel des Khan El Khalili-Basars von Kairo ab, in dem täglich Tausende 24 Stunden am Tag um Kleidung, Teppiche, Schmuck oder Gewürze handeln und feilschen. Wenige kleine Schritte in diese Gasse wirken wie ein großer Sprung in eine andere Welt.

Eben noch der Trubel und das orientalisch-arabische Stimmengewirr in dem verwinkelten Straßenlabyrinth des Basars, die vielen bunten Lichter, wild gestikulierende Händler, der Geruch exotischer Düfte von Gewürzen. In dieser Gasse nun das krasse Gegenteil. Kalkweiße Neonröhren tauchen sie in ein schummriges Zwielicht. Nur wenige Menschen sind hier. Mißtrauische Blicke junger Männer, die links und rechts der Gasse vereinzelt vor den Türen stehen. Türen, die zu kleinen Unterkünften führen und die auch zwei Schwarzafrikaner ansteuern.

Die beiden sind per Bus in der Altstadt von Kairo angekommen. Ein Bus, in dem überwiegend Schwarzafrikaner sitzen und der auf ein finsteres Grundstück einbiegt, das von einer zwei Meter hohen Mauer umgeben ist. Durch das geöffnete Tor sind weitere Busse auf dem Grundstück zu erkennen. Und schemenhaft weitere Gruppen von Schwarzafrikanern. Sie kommen über die im Süden Ägyptens gelegene Stadt Assuan ins Land. Flüchtlinge aus dem Sudan, Südsudan, Äthiopien, Eritrea oder Somalia. Auch syrische Migranten nutzen den Umweg über den Sudan, seit ihre visafreie Einreise per Flug nach Kairo nicht mehr möglich ist.

Neun Millionen Migranten aus 133 Ländern leben laut Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Ägypten. Das sind mehr als doppelt so viele, wie sich gegenwärtig in der Türkei aufhalten. Ein Pulverfaß, das zu explodieren droht. Kairo könnte sich dann schnell zu einem neuen, gewaltigen Drehkreuz für Migrationsströme Richtung Europa entwickeln.

Dabei hatte sich der ägyptische Staat in den vergangenen Jahren zu einer wichtigen Rückhalteregion entwickelt. Denn bisher blieb die Mehrheit der Geflüchteten im einstigen Land der Pharaonen, viele suchten und fanden hier zunächst Arbeit. Das könnte sich jedoch bald ändern. Schuld daran ist der Krieg in der Ukraine. Das Land gehört neben Rußland zu den größten Weizenexporteuren der Welt. Gleichzeitig zählt Ägypten zu den größten Weizenimporteuren. 80 Prozent des Nahrungsmittels importiert das Land aus Rußland und der Ukraine. Das Problem: Russische Seeblockaden und damit einhergehende Transportverzögerungen des lebenswichtigen Gutes haben am Nil die Preise in die Höhe schießen lassen. Wie die Migration selbst ist Weizen zur Waffe geworden, läßt die Kosten für Brot in astronomische Höhen schnellen.

Doch nicht nur die würden steigen, sagt Hossam, ein Händler auf dem Basar, mit dem die JF ins Gespräch kommt. „Joghurt, Milch, Eier, alles stark verteuert“, klagt der 34jährige. Die Menschen in der Stadt könnten sich immer weniger leisten. Auf dem Land sind die Preise für Dünger explodiert, die Bauern können ihre Felder nicht mehr bewirtschaften.

Schon für diese leise Kritik riskiere er, sich Ärger einzuhandeln, spricht Hossam nun etwas leiser. „In Ägypten können wir nicht so offen sprechen wie bei euch in Deutschland.“ Kritik an der Regierung sei mit Risiken verbunden, werde schnell bestraft. Geheimpolizei und Militär seien überall in der Stadt präsent. Der Staat subventioniere inzwischen die Brotpreise. Der Grund: „Die Regierung möchte vermeiden, daß es noch einmal zu Aufständen wie 2011 bei der Arabischen Revolution kommt.“ Doch die Subventionen könnten die Preissteigerungen nur abmildern. „Immer mehr wollen weg“, erzählt der 34jährige. Weg Richtung Europa. Zuerst seien es nur die Flüchtlinge gewesen. „Sie waren schon vor Jahren nach Ägypten gekommen, arbeiteten hier im Land. Doch ihr Lohn reicht nicht mehr.“

„Mittlerweile machen sich auch immer mehr Ägypter auf den Weg“, verrät Hossam. Erst vor zwei Wochen sei der Sohn seines Schwagers aufgebrochen. „Ein guter Junge. Er wird es schaffen“, ist der 34jährige überzeugt.

Auf die Unterkünfte in den kleinen Seitengassen und die beiden Schwarzafrikaner angesprochen bestätigt er: „Dort kommen von Zeit zu Zeit Flüchtlinge unter.“ Diejenigen, die hier blieben, würden sich quer über ganz Kairo verstreuen. „Meistens landen sie in den Slums der Vororte“, erklärt Hossam.

Wer in Basar-Nähe unterkomme, sei zumeist von Schleusern einquartiert und gehöre zu denjenigen, die weiter wollen. Busse mit Migranten aus dem Süden kämen „täglich“ nach Kairo. Hossam sieht die „Neuen“ dann an seinem Stand vorübergehen, den Trubel der Märkte nutzend, um unauffällig Kleidung zu besorgen oder potetzielle Schleuser anzusprechen, die sie nach Europa bringen.

EU-Kommission unterstützt Kairo beim Grenzschutz

Genau das möchte die EU-Kommission verhindern. Zu hoch ist schon jetzt die Zahl jener Menschen, die über den Balkan oder das Mittelmeer nach Europa gelangen. Allein in diesem Jahr sind es über 300.000. So viele wie seit 2016 nicht mehr.  

Im August dieses Jahres reagierte die EU-Kommission, plant eine engere Kooperation mit den nordafrikanischen Staaten zur Eindämmung der Zuwanderung. Vor allem den Grenzschutz dieser Länder plant sie mit Hilfe von Millionen-Zahlungen zu verstärken. Auch die Finanzierung von Such- und Rettungsausrüstung will sie den Ägyptern damit ermöglichen. Ende Oktober schloß die EU mit Ägypten ein Abkommen zur Begrenzung der Migration. Der nordafrikanische Staat soll EU-Zahlungen in Höhe von 80 Millionen Euro erhalten. Davon allein 23 Millionen noch in diesem Jahr.

Der Erfolg der Maßnahme: zweifelhaft. Denn auch bei der ägyptischen Regierung hat sich herumgesprochen, daß Migranten von Europa aus üppige Summen in ihr Heimatland transferieren. 

Im letzten und fünften Teil der Migrations-Reportage (Endstation Deutschland) reisen wir an die Grenzen zu Österreich und der Schweiz.