© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Grüße aus … Vancouver
Verleugnete Obdachlose
Marc Zoellner

Für die US-Amerikaner ist der Fernsehsender CBS, die Kurzform für „Columbia Broadcasting System“, eine Instanz in Fragen guter Unterhaltung. Und das schon seit fast hundert Jahren: Ob in den 1950ern mit dem Hundedetektiv „Lassie“, in den 1970ern mit dem Vietnam-Dramedy „M*A*S*H“ oder nach der Jahrtausendwende mit verschiedensten „Navy CIS“-Formaten. Zur Sneak Preview hatte uns der Sender für eine bald anlaufende Serienverfilmung des Kultfilms „True Lies“ eingeladen. Die Fragen, die uns die Produzenten dabei stellten, hatten es allerdings in sich: Ist der Pilotfilm auch „woke“ genug (ja)? Kommen die farbigen Hauptdarsteller zu stereotyp herüber (nein)?

Das alles sind Probleme, die die Filmemacher im benachbarten Kanada glücklicherweise noch nicht interessieren. Seit Jahrzehnten hat sich im pazifischen Vancouver, dem „Hollywood des Nordens“, eine ganz eigene und ungemein erfolgreiche Filmszene angesiedelt. Ob „Smallville“ oder „Supernatural“, „Stargate“ oder „Akte X“ – die Dreharbeiten in den Kulissen einer der attraktivsten, aber auch teuersten Städte der Welt boomen ohne Unterlaß. Der Grund ist nicht nur in den liberalen Steuergesetzen Kanadas zu finden. Vancouver profitiert nicht minder von den vielen Fachkräften, die an den Hochschulen der Metropole ausgebildet werden.

„Wenn du gerade Gras rauchst, dann warte vier Stunden, bis du wieder Auto fährst.“

Einen hiervon, den wir „Dennis“ nennen wollen, treffen wir bei Kürbisbier und Gin Tonic in einer Kneipe in Gastown, dem Yuppie-Viertel der Stadt. Dennis spielt heute mit seiner Band auf. Die Rockmusik ist sein zweites Standbein neben seiner schon zwei Jahrzehnte währenden Tätigkeit als „Special Effects“-Verantwortlicher für unzählige Produktionen. Dieser Tage steht für ihn die Netflix-Serie „Virgin River“ auf dem Arbeitsplan, und zwar bereits, wie Dennis uns im geheimen verrät, die sechste Staffel. Gebannt lauschen wir seinen Erzählungen, ob die Protagonistin auch im echten Leben schwanger ist und wie man künstlichen Regen im Wald erzeugt. Kleiner Tip: Der Trick hat mit viel heißem Wasser zu tun und ist für die Darsteller äußerst unangenehm.

In Gastown hat sich auch der Regisseur Uwe Boll niedergelassen. Nur einen Block von seinem Spitzenrestaurant entfernt beginnt hingegen die East Hastings Street, Vancouvers Armenviertel. Hunderte Obdachlose vegetieren hier in Zelten mitten auf der Straße. Gewalt und harte Drogen dominieren den Alltag. Für die Stadtverantwortlichen war East Hastings lange Zeit Tabuthema. Auch heute noch übt sich Vancouvers Politik lieber, mit liberalen Themen zu glänzen. So findet sich gleich neben einer Drogenberatung für Obdachlose ein großes städtisches Plakat mit der Aufschrift: „Wenn du gerade Gras rauchst, dann warte vier Stunden, bis du wieder Auto fährst.“ In East Hastings kann sich niemand ein Auto leisten.