© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Ölpreisdeckel als Eingeständnis kontraproduktiver Sanktionen
Tricks und Strohmänner
Thomas Kirchner

Der Schweizer Mathelehrer Manuel Schütz hält mehrere Weltrekorde im Bumerangwerfen. Nicht viel Rechenkünste braucht man, um den Bumerangeffekt der Rußland-Sanktionen zu erkennen – ein Blick auf die Gas- oder Stromrechnung genügt. Das Gegenstück sind Rekordgewinne der russischen Energiekonzerne sowie Handelsüberschüsse bei Rekordstärke des Rubels. Der jetzt verabschiedete Ölpreisdeckel ist das Eingeständnis, daß die bisherigen Sanktionen kontraproduktiv waren. Aber werden die Einnahmen Moskaus so wirklich begrenzt? Das kann bezweifelt werden. Abzusehen sind zumindest vorübergehende Verwerfungen im Ölmarkt.

Außenminister Sergej Lawrow hat angekündigt, Rußland werde keine Geschäfte mehr mit Ländern machen, die sich dem Preisdeckel anschließen. Energiehungrige Länder, die keine Sanktionen verhängt haben, gibt es viele. Russisches Öl wird also dorthin fließen, während deren bisherige Importe nach Europa umgelenkt werden. Die Gesamtmenge an Öl wird sich langfristig nicht ändern, allerdings kann es in der Übergangsphase zu Engpässen kommen. Die US-Investmentbank JPMorgan Chase warnt vor Verdopplung des Ölpreises auf 170 Dollar pro Barrel, sollte Rußland mit einem Lieferstopp reagieren. Die G20-Schwergewichte China und Indien sowie der Nato-Partner Türkei werden Hauptabnehmer, raffinierte Produkte mit gefälschten Herkunftsdokumenten dann von dort aus in die EU weitergeleitet.

Ein anderer Trick: Einen halbvollen Tanker als voll deklarieren, damit der Durchschnittspreis unter dem Preisdeckel liegt. Zur Verhinderung solcher Winkelzüge soll auch der Transport russischen Öls erschwert werden. Reedereien und Versicherungen dürfen nur noch Dienstleister für Ladungen sein, die dem Preisdeckel unterliegen. Da viele diesbezügliche Anbieter in Griechenland bzw. in England ansässig sind, scheint dies zunächst machbar. Doch hundert ältere Öltanker sollen inzwischen von Rußland oder „Strohmännern“ erworben worden sein.

Und Pekings Planwirtschaftler wurmt schon lange, daß ihr Land zwar Nummer eins beim Umschlag von Seefracht ist, aber Finanziers und Reedereien im Westen sowie Anwälte und die Versicherung Lloyds in London maritime Dienstleistungen unter sich aufteilen. Die neuen Sanktionen könnten Chinas Banken und Versicherungen erstmals den Markteintritt außerhalb des chinesischen Schiffsektors ermöglichen. Und wenn sich das übliche Muster wiederholt, werden chinesische Dienstleister dann nach und nach die westlichen aus dem Markt verdrängen. Aus Pekings und Moskauer Sicht ist es sinnvoll, so viele Elemente des Schiffsverkehrs wie möglich unter ihre Kontrolle zu bringen und so vor aktuellen und künftigen Sanktionen zu schützen. So kann auch der Ölpreisdeckel zum Bumerang werden.

Die westlichen Sanktionen haben durch nur geringfügig niedrigere Mengen zu überproportional höheren Preisen geführt – was Rußlands Finanzen deutlich verbessert. Will man einem Rohstoffexporteur schaden, braucht man so niedrige Preise, daß auch hohe Exportvolumen nur schlappe Gewinne einbringen. Dank hoher Preise wird Rußland weiterhin hohe Einnahmen verbuchen, während sich Zwischenhändler und Schmuggler auf Kosten der Verbraucher eine goldene Nase verdienen. Notwendig wäre eine Kehrtwende bei den Sanktionen und den Ölpreis durch hohe Volumen, auch aus Rußland, zu drücken. Aber eine solche Blamage ist politisch nicht durchzusetzen.