© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

„Deutschland, mein armes geliebtes Kind“
Friedrich Sieburgs Tagebuch aus den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs
Wolfgang Müller

Zwei Tage vor Heiligabend 1944 beschließt Friedrich Sieburg, nachmaliger „Literaturpapst“ der Adenauer-Ära, das Weihnachtsfest auf dem unweit seiner Tübinger Notunterkunft gelegenen Schlößchen Rübgarten zu verbringen, dem Landsitz seiner frisch von ihm geschiedenen Frau. Keine gute Idee, wie er nach den Erfahrungen aus seiner kurzen Ehe mit dem fast zwanzig Jahre jüngeren Edelfräulein hätte wissen müssen. Denn hinter der glänzenden Fassade der geborenen Freiin von Bülow und verwitweten Gräfin Pückler verbarg sich eine schwerkranke Psychopathin. Am ersten Weihnachtstag zieht Sieburg daher die im Grunde befürchtete Bilanz. Die „Wahnsinnige“ habe ihn, wie so oft, auch zum Fest der Liebe tätlich angegriffen, ihm tiefe Kratzwunden im Gesicht zugefügt und ihm büschelweise die Haare ausgerissen, bevor sie ihre dazwischengehende Mutter, eine geborene Gans Edle Herrin zu Putlitz, attackiert und die schon am Boden liegende Dame mit Fußtritten traktiert habe. Es sei zu schrecklich gewesen, „gleich einem Traum, den der Verdammte in der Hölle zur Erhöhung seiner Qual träumen muß“.

Diese wüste Szene, die eher ins proletarische Zille-Milieu zu passen scheint, überliefert das vom November 1944 bis zum Mai 1945 geführte, nun erstmals edierte Tagebuch Sieburgs, das der Herausgeber Joachim Kersten leider mit etlichen fehlerhaften Anmerkungen und dem moraltriefenden Nachwort eines nachgeborenen Besserwissers („Sieburg war ein Opportunist“, zischt ausgerechnet ein Intellektueller der Generation Mitläufer 4.0) versehen hat. In groben Zügen ist dessen Inhalt zwar durch die opulenten Biographien von Klaus Deinet (2. Auflage 2014) und Harro Zimmermann (2015) bekannt, aber sein Wert als Zeitdokument aus den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs erschließt erst jetzt der vollständig veröffentlichte Text. Zwangsläufig „schwimmt“ darin, wie Sieburg klagt, „das Unglück Deutschlands mit dem schwarzen Strom meines eigenen zusammen“. Ist der Tagebuchschreiber doch seiner Ex-Gattin in Haßliebe weiter verbunden und reflektiert in vielen, mit reichlich Selbstmitleid durchsäuerten Eintragungen das von masochistisch hingenommener Frauengewalt und endlosen Demütigungen geprägte Drama seiner Ehe. Und parallel zum „überwältigenden persönlichen Unglück“ protokolliert der müde Melancholiker die Götterdämmerung des Deutschen Reiches, das von seinen Feinden so erbarmungslos geschlagen wird wie der Starjournalist von seiner Frau. 

So wenig jedoch wie bei seiner schmerzensreichen Beziehungsgeschichte, die ihn selbst mit ihren Nachwehen noch an den Rand des Selbstmords bringt, ist Sieburg beim Untergang des Reiches neutraler Beobachter. Weil der 1893 geborene Paris-Korrespondent der linksliberalen Frankfurter Zeitung, der als Frankreich-Kenner und sich kosmopolitisch gebender Reiseschriftsteller seit den frühen 1930er Jahren eine europäische Berühmtheit ist, eben auch einer Alterskohorte angehört, die sich in hohem Maße mit Deutschland identifiziert und sich als „verlängertes Selbst“ (Klaus Theweleit) ihres Vater- und Mutterlandes fühlt. Bis zuletzt fällt es dem der Maxime „Right or wrong, my country“ gehorchenden Fliegeroffizier des Ersten Weltkriegs, Patrioten und konservativen NS-Gegner daher schwer, zwischen dem Regime und der Nation zu unterscheiden. Als er am 4. Mai 1945 hört, Großadmiral Karl Dönitz habe den Westalliierten die Kapitulation angeboten, ist das für ihn kein Grund zur Vorfreude über die baldige „Befreiung“. Im Gegenteil: „Meine Tränen fließen. Deutschland, einst meine unmenschliche Mutter, nun mein armes geliebtes Kind.“

Von den Terrorangriffen der angloamerikanischen Luftwaffen hält der Chronist einige der schwersten in seiner Region penibel fest, wie die auf Freiburg am 27. November und auf Heilbronn am 4. Dezember 1944. In Freiburg pulverisiert die Royal Air Force die militärisch irrelevante Altstadt, tötet 3.000, verwundet 8.000 Zivilisten. In Heilbronn sterben 6.500 Menschen im britischen Feuersturm, darunter 1.000 Kinder unter zehn Jahren. Das sei der „bisher gründlichste und wildeste Frauen- und Kindermord dieses Krieges“ gewesen, kommentiert der erschütterte Sieburg. Und fügt voller Abscheu hinzu: „Das nennen die Engländer einen Angriff auf einen Eisenbahnknotenpunkt.“  

Sieburgs Blick auf diese monströsen Kriegsverbrechen erlaubt ihm keinen anderen Schluß als den, daß dieser Feind einen Vernichtungsfeldzug nicht nur gegen Hitler und die „Nazis“, sondern gegen das ganze deutsche Volk führt. Womit er aber, wie Sieburg häufiger und stets mit Befriedigung notiert, lediglich den Endsiegglauben nähre und den Durchhaltewillen der unbeirrt auf den „Führer“ und seine Wunderwaffen vertrauenden Volksgemeinschaft stärke. „Eine bessere Geistesverfassung als die jetzige“, vermerkt Sieburg kurz vor Beginn der eine „Welle des Optimismus“ auslösenden Ardennen-Offensive,  „kann sich ein ums Letzte kämpfendes Staatswesen überhaupt nicht wünschen“. Noch Ende Januar 1945 folgert er daraus, „unsere Sache“ stehe politisch nicht so schlecht wie sie militärisch erscheine. 

Trotz der bei ihm vorherrschenden Überzeugung, die Deutschen seien primär Opfer ihrer Feinde, schwingt sich der von jeher nationalpäda-gogisch ambitionierte Sieburg gern auch zum Ankläger seines Volkes auf. Auslöser seiner schärfsten Philippika ist die ihn verspätet erreichende Nachricht vom britischen Luftangriff auf Weimar am 9. Februar 1945: „Das Goethe-Haus ist zerstört. Welch ein ungeheurer Vorgang, der die ganze Welt aufrütteln müßte. Und doch fällt er achtlos wie ein Tropfen in den Ozean der allgemeinen Zerstörung.“

Dem promovierten Germanisten, der sich einst als Hospitant des George-Kreises in dessen Goethe-Kult eingelebt hatte, ist hingegen zumute, als sei ein Stück seiner innersten Existenz ausgelöscht worden, da des Dichterfürsten Haus am Frauenplan ihm „die größte sichtbare Kundgebung gegen den [modernen] Dämon der Zerstörung“ gewesen sei. „Nun ist das Haus zerstört, das ist sinnvoll. Dresden ist zerstört. Was bleibt uns noch? Aber ich sage ‘uns’ und weiß doch, daß wir nur wenige sind. Denn diese Zerstörung wäre nie über uns gekommen, wenn die Zeugnisse unserer Kultur wirklich ein Teil unseres Gesamtlebens gewesen wären. Die Dinge waren da, herrlich und lebendig […,] aber ihnen entsprach keine Gesittung. Deutschland war längst hinter seiner Vergangenheit zurückgeblieben.“ Deshalb seien die Deutschen auch der Herrlichkeit ihrer alten Städte nicht mehr würdig gewesen.

In dieser Passage des Diariums vom 23. Februar 1945 verdichtet sich das Programm, dem Sieburg in der Bonner Republik, als ein sich der „Furie des Verschwindens“ (Hegel) entgegenstemmender „leidenschaftlicher Abendländer“ folgt, indem er  als imperialer Feuilletonchef der FAZ seine Literaturkritik zur fundamentalen Zeit- und Kulturkritik ausweitet. Ohne daß es ihm als „literarischer Regierungspartei“ (Hans Magnus Enzensberger, 1962) im neuerlichen Anlauf zur Formung humaner „Gesittung“ und nationaler Identitätsstiftung  geglückt wäre, der, wie er sie sah, entpolitisierten, geschichtsverlorenen, auf Selbstbestimmung verzichtenden, bildungslosen, amerikanisierten westdeutschen Nachkriegsgesellschaft ein in Jahrhunderten angehäuftes kulturelles Erbe zu vermitteln.

Stellvertretend für diesen Willen, mit der Vergangenheit radikal zu brechen, stand ihm lange vor 1968 die banausische Linksintelligenz der Bundesrepublik: „Eine machthungrige Horde, deren edelstes Organ der Ellenbogen ist, unfähig etwas zu erben, da sie nichts kennt und erkennt, wild entschlossen, alles Überlieferte über Bord zu werfen, da sie über dessen Wert nie nachgedacht hat, bereit, das von ihr plattgetretene Gelände für die Tabula rasa eines Neubeginns zu halten …“ (1961). Die Machteroberung dieses „diversen“ Menschentyps, 60 Jahre später, hätte Friedrich Sieburg nicht überrascht. 

Friedrich Sieburg: Die Fliege im Bernstein. Tagebuch vom November 1944 bis zum Mai 1945. Hrsg. unter Mitarbeit von Klaus Deinet und mit einem Nachwort von Joachim Kersten, Wallstein Verlag, Göttingen 2022, gebunden, 232 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro