© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Auslöschung des kulturellen Gedächtnisses
Museum schließt Ausstellung: Die Londoner Wellcome Collection würdigt ihren Gründer und dessen Medizinsammlung herab
Julian Schneider

Das bekannte Londoner Medizinmuseum The Wellcome Collection schämt sich der Sammlung des Gründers Sir Henry Wellcome und gibt diesem postum einen Fußtritt. „Rassistisch und sexistisch“ sei die aus seiner Sammlung bestehende Dauerausstellung „The Medicine Man“ (Der Medizinmann), teilte das Museum mit. Daher werde sie geschlossen. Mit ihrer Entscheidung hat die Wellcome Collection in Großbritannien eine neue Diskussion über Cancel Culture ausgelöst. „Der Schritt ist nicht nur idiotisch. Er bedeutet die fortschreitende, willentliche und erfolgreiche Auslöschung des kulturellen Gedächtnisses“, kritisierte die Kolumnistin Melanie Phillips in der Times.

Das Museum, das zum Wellcome Trust gehört, einer der größten medizinischen Stiftungen der Welt, trägt den Namen von Sir Henry Wellcome. Der 1853 im Mittleren Westen der USA geborene Pharmazeut hatte in London das Unternehmen Burroughs Wellcome & Co mitgegründet (einen Vorläufer des heutigen GlaxoSmithKline-Konzerns). Sein Unternehmen entwickelte als erstes ein Antikörpermittel gegen Diphtherie, die damals viele Kinder hinwegraffte, und begann die Massenproduktion von Insulin. Bei seinem Tod 1936 spendete er sein milliardenschweres Vermögen. Die nach ihm benannte britische Stiftung mit inzwischen einem Vermögen von 38 Milliarden Pfund (nach der Gates-Stiftung die zweitgrößte medizinische Treuhandstiftung der Welt) fördert medizinische Forschung. Unter anderem half sie, erste Medikamente und Therapien gegen Blutkrebs und HIV zu entwickeln. Und der Trust betreibt seit 2007 ein imposantes Museum in London nahe der Euston Station, das jährlich mehr als eine halbe Million Besucher anzieht.

Anatomische Körpermodelle aus Holz, Elfenbein oder Wachs

Für die seit fünfzehn Jahren beliebte Medizinmann-Schau ist nun aber endgültig der Vorhang gefallen. Eine höchst umstrittene Entscheidung, denn sie radiert nachträglich das Vermächtnis des Gründers und seine Perspektive auf die Medizingeschichte aus. Sir Henry war ein begeisterter Pharmaforscher und Sammler, der auf der ganzen Welt Tausende Exponate und Kuriositäten zusammentrug, die im weitesten Sinne mit dem Thema Gesundheit und Krankheit zu tun haben. Dazu gehört ein 4.000 Jahre alter Schädel mit einem Loch (vermutlich von einer prähistorischen OP), römische Ton-Votivgaben für kranke Füße, Hände und Ohren, eine peruanische Mumie, eine große japanische Puppe zur Akkupunktur-Lehre, eine künstliche Nase aus Metall aus dem 18. Jahrhundert und eine Guillotine, aber auch Napoleons Zahnbürste, Haar von König George III., Charles Darwins Spazierstock, die Totenmaske Benjamin Disraelis und die Hausschuhe der berühmten Krankenschwester Florence Nightingale aus der Zeit des Krimkriegs. In der beliebten Dauerausstellung „Der Medizinmann“ zeigte das Museum zudem anatomische Körpermodelle aus Holz, Elfenbein oder Wachs, die teils fast vierhundert Jahre alt sind, sowie Gläser und Krüge für Medizin oder auch Skulpturen und Darstellungen aus Afrika.

Nun gibt sich der Trust zerknirscht über die Ausstellung. Sie habe „eine Medizingeschichte fortgeschrieben, die auf rassistischer, sexistischer und ableistischer Theorie und Sprache beruhe“, so die Museumsleitung. Behinderte, schwarze und indigene Menschen seien „exotisiert, marginalisiert und ausgebeutet“ worden, war auf dem Twitterkanal der Collection zu lesen. Melanie Keen, die seit 2019 amtierende dunkelhäutige Direktorin der Wellcome Collection, stieß sich besonders an einem Ölgemälde von 1916, das einen knieenden kranken Afrikaner vor einem weißen Missionar und Arzt zeigt. Die rassischen Stereotypen und Hierarchien bereiteten ihr Bauchschmerzen. Nun soll das Museum die Dauerausstellung komplett umkrempeln und die ehemals Marginalisierten aufwerten. Man könne nicht „die einzige Perspektive eines privilegierten und mächtigen Mannes“ wiedergeben.

In der britischen Presse wurden aber auch Stimmen laut, die dem Museum eine lächerliche Selbstkasteiung, kulturellen Vandalismus und undankbare Cancel Culture vorwerfen. Lawrence Goldman, ehemals Herausgeber des Oxford Dictionary of National Biography, griff die Museumsleitung direkt an, die ihren Stifter und Gönner an den Pranger stellt. „Wellcome wurde in schlimmster Armut in einer amerikanischen Grenzstadt geboren und hat ein Unternehmen in Britannien gegründet, das Tausende beschäftigte und Millionen geheilt hat. Warum würde irgendwer, der bei Sinnen ist, ihn canceln wollen?“

Schon während der „Black Lives Matter“-Proteste hatte sich die Wellcome Collection mit einer besonders gewagten und idiotischen Äußerung exponiert: Alle Museen seien auf „Weißer Überlegenheit“ (White Supremacy) gebaut, hieß es jammernd und selbstanklagend in einer Stellungnahme. Gleichzeitig nehmen Wellcome-Leute gerne das Geld des von ihnen verachteten Gründers. Zwischen 1,9 Millionen und 7,9 Millionen Pfund Jahressalär bezogen sieben Vorstände des Trusts, wie die Kolumnistin Melanie Phillips erinnerte. Das Gehalt jedes einzelnen Angestellten wird aus dem Vermächtnis des „mächtigen weißen Mannes“ bezahlt. Die jüdische konservative Kolumnistin sieht in der Entscheidung des Museums letztlich ein Ressentiment gegen die westliche Kultur. Sie hat recht. Letztlich drückt sich im Canceln Sir Henrys durch die heutige „woke“ Museumsleitung wieder einmal der anti-weiße, anti-westliche Bias und Selbsthaß jener aus, die nicht verwinden können, daß die moderne Wissenschaft eben maßgeblich von Weißen im Westen entwickelt wurde und nicht in Afrika.