© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Die Regie weiß es besser!
Premierenkritik: Ludwig van Beethovens „Fidelio“ an der Deutschen Oper Berlin
Jens Knorr

Beethovens „Fidelio“, unsere Nationaloper, die sie niemals werden konnte, ist ein schwieriges Stück: für Sänger, Instrumentalisten, Dirigenten – und zuletzt für Regisseure. Deutungen und Mißdeutungen, Gebrauch und Mißbrauch haben sich Schicht um Schicht über die Partitur gelegt, und den Interpreten stellt sich die Aufgabe, Intention und Niederschrift darunter freizulegen, Weltbild im Notenbild zu klären und auf die weltbedeutenden Bretter zu bringen und aus dem Orchestergraben in den Saal herüber. Um es vorwegzunehmen: die an der Deutschen Oper haben sich ihr nicht gestellt!

Die älteren Operngänger werden sich noch erinnern: Auf der Suche nach ihrem zu Unrecht eingekerkerten Mann verdingt sich dessen Gattin Leonore unter dem Namen Fidelio als Gehilfe des Kerkermeisters Rocco in einem spanischen Staatsgefängnis, einige Meilen von Sevilla entfernt.

Johannes Schütz hat den offenen Bühnenraum in eine übermannshohe, begehbare Wallmauer aus Lehmziegeln gegliedert, die eine lehmige Spielfläche umschließt. In deren Mitte klafft ein Krater zu dem tiefsten Kerker, in den man nieder und aus dem man aufsteigen kann, davor ein Podium, überdimensionierter Anatomie- oder Altartisch, hinaufzuklettern und herabzusteigen oder als Laufsteg zu nutzen, darunter ein Kabelverteiler- oder Materialschrank. So weit, so symbolisch.

Drinnen und Draußen scheinen aufgehoben, hier scheinen alle ebenso ein- wie ausgeschlossen, die einen mit, die andern ohne Fußfessel, die einen mit, die andern ohne Wasser und Brot. Freiheit und Unfreiheit scheint die Regie lediglich für eine innere Haltung zu nehmen und für das je besondere Bild, wie frei denn die Figuren in Unfreiheit, wie unfrei sie in Freiheit handeln und nicht handeln, keine freie Zeit. Dafür nimmt sie sich Freiheiten, die ihr die Partitur nicht gibt.

Der Dialogtext ist auf Kurzformeln zusammengestutzt

Überall brennt die Regie nur ungenau. Sie weiß es besser als die alten Opernführer, aber die Partitur weiß es besser als sie, was sie nicht hindert, besserwisserisch aufzutrumpfen. Sie dekonstruiert, was noch gar nicht konstruiert ward. Den Dialogtext des ersten Aufzugs hat sie auf Kurzformeln und Interjektionen zusammengestutzt, auf den des zweiten Aufzugs gleich ganz verzichtet. Regisseur David Hermann setzt blind voraus, was erst zu erspielen gewesen wäre. Seine Einfälle kommentieren Vorgänge, die selbst gar nicht zur Erscheinung gebracht werden. Sie fungieren lediglich als Eye-Catcher und überführen die leerlaufende psychologisierende Personenführung Einfall um Einfall ihrer szenischen Unlogik.

Marzelline, Tochter des Kerkermeisters Rocco, erleben wir als Heimbürgin, die Leichenwäsche als offensichtlich überflüssige Handlung betrachtet, da die Leiche – ein ungenannter Statist und der einzige gestisch genaue Spieler in dieser Inszenierung – sowieso wie Müll entsorgt wird. Marzellines Eheprojekt mit Fidelio, das sie in ihrer Arie entwirft, entwickelt sie aus dem Leichentuch, ohne sich in ihm zu verwickeln. Ihr Glücksentwurf, wie auch die Glücksentwürfe ihres Vaters und des Pförtners Jaquino, deren pflichtgemäßes Tun den Terror des Staatsgefängnisses ermöglicht, ohne daß sie den selbst direkt ausüben, werden nicht erspielt, die musikalischen Formeln des Singspiels, welche die Situation zur Kenntlichkeit bringen, durch die Regie diskreditiert.

Von allem Anfang an sitzen die Gefangenen im Halbrund an der Mauer, die Gesichter unter antikisierenden Masken verborgen. Ohne vorherige Erlaubnis Roccos von Leonore aufgeschlossen, durchbrechen sie zu ihrem Chor-Crescendo die Mauer, sammeln sich auf deren freiheitlicher Seite, ohne die Fluchtmöglichkeit nutzen zu wollen; schließlich haben sie einen weiteren Chor zu singen.

Das Bühnenpersonal wird mit Nebenhandlungen beschäftigt

Während Don Pizarro, der Gouverneur des Staatsgefängnisses, einen zudringlichen Gefangenen einfach so erstechen kann, scheint er auf die Idee, an seinem Staatsgefangenen Don Florestan ebenso zu handeln, all die Jahre nicht gekommen zu sein. Und Rocco erst. Damit ihr Inkognito nicht auffliegt, muß Leonore im unterirdischen dunklen Kerker auf Geheiß Roccos einen im unterirdischen dunklen Kerker herumkriechenden Gefangenen erschießen. Saß Florestan nicht in Einzelhaft? Warum hat sich Rocco gegenüber dem Gouverneur des Gefängnisses geziert, den einen Gefangenen zu ermorden, wenn es mit dem andern doch so einfach zu machen ist – obzwar mit der Musik des Duetts Nr. 12 nicht ganz so einfach. Als jedoch Leonore den Mord an ihrem Gatten verhindern will, hat sie wieder nur ein Messer dem Mörder Don Pizarro an die Kehle zu setzen, da Rocco nun wiederum sie mit der Pistole bedroht.

Daß der Gebrauch der Distanzwaffe nicht mehr und nicht weniger als einen Gesellschaftswechsel anzeigt, hat die Regie überlesen, wie so vieles andere Wichtige in Text und Partitur auch. Und warum hantieren Kerkermeister und Gehilfe eigentlich mit Schaufeln, wenn lediglich Planken zu heben sind, um ein Grab freizulegen? Hart, hart ist des Kerkermeisters Brot. Der zündet sich zweimal eine Zigarette an. Dabei steht über der Brandschutztür zur Bühne, stets geschlossen zu halten, klar und auch für jedermann im Saal sichtbarlich die Weisung: Rauchen verboten! Die Schlußszene dann wird als reine Protokollveranstaltung eines Politkaspers und seiner Entourage versimpelt, über die sich der Chor tapfer echauffieren darf, der mittels Hubpodium aus einer Etage noch unter dem tiefsten Kerker auf die Hinterbühne heraufgefahren wurde. Genug davon.

Vor den zentralen Musiknummern der Oper, insbesondere das Quartett und die großen Arien Pizarros und Leonores, muß die Regie passen, da sie nicht in ihre Konzeption einzupassen sind, und sucht dann und wann das Bühnenpersonal mit Nebenhandlungen zu beschäftigen.

In einem Bühnenbild, das weder Raum für die Musik schafft noch erzählende Arrangements anregt, und lediglich stereotyp eingekleidet, denn charakterisierend kostümiert, von der Regie in ihren Ansprüchen und Widersprüchen nicht verteidigt, bleiben die Sänger auf die musikalische Ausformung ihrer Partien verwiesen – und zeigen sich überfordert.

Zwar steht Ingela Brimberg mit strapaziertem Sopran die Partie der Leonore respektheischend durch, kann sie jedoch nicht ausnuancieren. Robert Watson singt den Florestan mit leichtem, beweglichem Tenor zu früh im schweren Fach. Vor allen anderen Sängern – Jordan Shanahan (Pizarro), Sua Jo (Marzelline), Gideon Poppe (Jaquino), Don Fernando (Minister) – prägte sich dem Rezensenten der Rocco des Albert Pesendorfer ein. Von der Regie auf einen blanken Opportunisten reduziert, läßt er mit eloquent geführtem Baß doch einiges von dem durchscheinen, was Beethoven da mit selten mehr und oft weniger Rücksicht auf die Sängerstimmen zum Ausdruck bringen wollte, wenn ihn die Eingebung überkam.

Unter Sir Donald Runnicles am Pult läuft alles so durch, wie es halt durchläuft. Aber dann legt er zum Presto molto des Opernfinales ein Tempo vor, als wäre der Geist des jungen Klemperer in ihn, in Orchester und Chor der Deutschen Oper gefahren. Und zu guter Letzt der Geist Ludwig van Beethovens.

Die nächsten „Fidelio“-Vorstellungen an der Deutschen Oper Berlin, Bismarckstraße 35, finden statt am 18. Dezember um 18 Uhr, am 7. und 14. Januar jeweils um 19.30 Uhr sowie am 22. und 26. Februar 2023. Karten gibt es ab 26 Euro. Telefon: 030 / 34 38 43 43

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