© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Seelenverwandte Prinzessinnen
Klassizismus: Eine Berliner Ausstellung präsentiert Hauptwerke des Bildhauers Johann Gottfried Schadow
Regina Bärthel

Besucher der Alten Nationalgalerie zu Berlin erleiden momentan einen kurzen Kulturschock: Da stehen sie an ihrem angestammten Platz in der Tempelapsis, die Prinzessinnen Luise und Friederike von Preußen. Doch ihre delikaten Formen erstrahlen nicht in klassischem Weiß, sondern sind bunt gefaßt in poppigen Farben: Mit seiner Gipsplastik „Zwei Schwestern“, entstanden 2014/15, zitiert der Düsseldorfer Künstler Hans-Peter Feldmann die sogenannte „Prinzessinnengruppe“ von Johann Gottfried Schadow, eine der kulturellen Ikonen Berlins. Ein Beispiel dafür, welche Strahlkraft die vielgerühmte Inkunabel der deutschen Klassik auch heute noch ausübt.

Yvette Deseyve, Kuratorin für Bildhauerei an der Alten Nationalgalerie, gelang damit ein spannungsreicher Auftakt zur Ausstellung „Berührende Formen“: Als erste Retrospektive seit rund 30 Jahren widmet sich die Präsentation den Hauptwerken Johann Gottfried Schadows (1764–1850) und führt in dessen bildhauerisches, grafisches und kunsttheoretisches Schaffen ein. In elf Themenkomplexen wird das Werk wie auch die Kunsttheorie Schadows beleuchtet und die neuen Erkenntnisse, die das interdisziplinäre Forschungs- und Restaurierungsprojekt um die Prinzessinnengruppe hervorbrachte, vermittelt. In die einzelnen Bereiche wird durch informative und gut formulierte Wandtexte eingeführt – die im Gegensatz zur ausstellungsbegleitenden Öffentlichkeitsarbeit noch dazu wohltuend ungegendert sind. 

Bis hin zum Wahrzeichen Berlins, der Quadriga auf dem Brandenburger Tor, war der „Direktor aller Skulpturen“ am Oberhofbauamt und Leiter der preußischen Hofbildhauerwerkstatt Johann Gottfried Schadow an der Gestaltung des klassizistischen Erscheinungsbilds der Stadt beteiligt. Erhalten sind heute noch weit über 2.000 seiner Zeichnungen und etwa 400 seiner bildhauerischen Werke, von denen die Alte Nationalgalerie mit rund 150 Arbeiten den weltweit umfassendsten Bestand besitzt. Der Ruhm und das Können des Bildhauers zogen zudem zahlreiche Schüler an, darunter Christian Daniel Rauch. Durch seinen immensen künstlerischen Einfluß gilt Schadow heute als „Vater der Berliner Bildhauerschule“, die bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreicht.

Um 1800 galt der Bildhauer international als der berühmteste Künstler Preußens, was nicht zuletzt mit dem lebensgroßen Doppelstandbild der Prinzessinnen Luise und Friederike von Preußen zusammenhing. Sie stehen im Zentrum der Ausstellung „Berührende Formen“, die im Schinkelsaal eine weitere überraschende Inszenierung bereithält: Hier sind zum ersten Mal beide Varianten der Prinzessinnengruppe – das umfassend restaurierte Modell aus Gips von 1795 und die zwei Jahre später beendete Ausführung aus Carraramarmor – vereint zwischen wandfüllenden Spiegeln zu sehen. Was zunächst wie ein kühler Laufsteg aus der Modewelt der 1980er Jahre wirkt, ermöglicht eine umfassende Ansicht der Standbilder und ist zugleich ein schönes Bild für deren weitreichende Wirkung.

Den Reiz einer Person aus vielen Eindrücken herausfiltern

Immerhin schuf Schadow mit der Prinzessinnengruppe das erste Monumentalstandbild zweier weiblicher historischer Persönlichkeiten und verband es mit einer neuen Strömung: Nach englischem Vorbild entstand während der Epoche der Empfindsamkeit auch in Deutschland ein wahrer Kult um subjektive Emotionen, Freundschaft und Geschwisterliebe. Grundlegend hierfür war der Begriff der Seelenverwandtschaft, die wiederum aufgrund ihrer „weiblichen Natur“ insbesondere zwischen Frauen assoziiert wurde. Tatsächlich drückt sich in der kompositionellen Einheit der fein ausbalancierten Körper und verschränkten Berührungen der Schwestern eine neue Form der Vertrautheit und Natürlichkeit aus.

Neben den beiden Varianten der Prinzessinnengruppe werden im Schinkelsaal auch Portraitbüsten von Luise und Friederike von Preußen gezeigt, durch deren Modellierung sich der Bildhauer den Physiognomien der Prinzessinnen annäherte: Eine der schwersten Aufgaben in der Kunst sei es, so Schadow, „Ähnlichkeit und Anmut zu vereinigen, in einem Moment den Reiz zusammenzufassen, der im Leben durch das beseelte Bewegte, Mannigfaltige unendlich vieler Momente“ liege. Dazu benötige es ein „ein zartes Kunstgefühl und einen, möchte ich fast sagen, an List grenzenden Beobachtungsgeist.“ Nur so könne der Künstler den „Reiz“ der Portraitierten vermitteln, der das Wesentliche einer Person aus vielzähligen lebendigen Eindrücken herausfiltere. 

Doch der „Reiz“ des Doppelstandbilds der Prinzessinnen Luise und Friederike von Preußen wurde durchaus kontrovers beurteilt: Friedrich Wilhelm III., Luises Ehemann, befand die Skulptur als „fatal“ und verbannte sie aus dem öffentlichen Blickfeld. Für seinen Geschmack und herrschaftlichen Repräsentationssinn war Schadow der reizvollen Natürlichkeit wohl ein wenig zu nahe gekommen. Schuld daran dürfte ebenso der private, ja intime Gestus der Schwestern, wie auch die  zeittypische Mode „à la grecque“ gewesen sein: Sie war darauf angelegt, den weiblichen Körper auf antikisierende Weise zart zu umfließen. Daß sich dies als sehr figurbetonend auswirken konnte, zeigt die Ausstellung anhand Schadows kleiner Aquarellserie „Schreitendes Mädchen gegen den Wind“ (um 1804).

Setzte der Klassizismus meist auf eine Idealisierung des Dargestellten, bemühte sich Schadow um eine Synthese zwischen Antike und Natur. Darin zeigt sich nicht zuletzt der Geist der Aufklärung und des Forschungsdrangs; immerhin gehörte Alexander von Humboldt zu jenen Personen, die Schadows Interesse am Studium der Natur, an Bewegung und Physiognomien prägten. Goethe allerdings tadelte den in Berlin vorherrschenden „Naturalismus“, worauf Schadow seinerseits kritisch konterte: Die „behauptete Allgemeinheit der Idealität“ sei lediglich die „Gleichförmigkeit einer Konvention“, die die Vielgestaltigkeit der Natur und damit auch der Antike verfehle.

Doch durch das königliche Diktum fristete die Prinzessinnengruppe ihr Dasein in einer abgelegenen Ecke, und noch zu seinen Lebzeiten mußte Schadow feststellen, daß sie „nur Wenigen der Anwesenden noch in Erinnerung“ war. Auch sein Ruhm verrauchte im wahrsten Wortsinn, wurde er in der Gunst der Auftraggeber doch bald schon durch seinen Schüler  Christian Daniel Rauch abgelöst.

Es war jedoch gerade jene umstrittene Natürlichkeit und Unmittelbarkeit der in Marmor gehauenen Prinzessinnen, die – nachdem sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht wurden – auf großes Interesse und Bewunderung stieß und erneut zahlreiche Künstler begeisterte. Deutliche Wertschätzung erfuhr die Kunst Schadows dann durch Hugo von Tschudi und dessen 1906 an der Nationalgalerie gezeigte Jahrhundertausstellung deutscher Kunst, durch die der Bildhauer Johann Gottfried Schadow seinen heutigen Platz im Kanon der Kunstgeschichte erhielt.

Die Ausstellung „Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen“ ist bis zum 19. Februar 2023 in der Berliner Alten Nationalgalerie, Bodestraße 1–3, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Tel.: 030 / 266 42 42 42. Der Katalog mit 320 Seiten und 220 Farbabbildungen kostet im Museum 39,90 Euro.

 https://schadowinberlin.de