© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Und nun die Corona-Amnestie?
Aus Schaden dumm
Konrad Adam

Gelegentlich liest man in Kleinanzeigen: „Freiwillige gesucht!“. Gesucht werden Leute, die dazu bereit sind, gegen geringes Entgelt an medizinischen Experimenten teilzunehmen, die irgendein neues Wundermittel gegen Krebs, Haarausfall oder Schweißfüße versprechen. Das klingt verdächtig, läßt aber immerhin Respekt vor den zwei Minimalanforderungen erkennen, die an Versuche mit Menschen zu stellen sind: Aufklärung über das Programm und Zustimmung aus freien Stücken. „Informed consent“, wie es im Fachjargon der Mediziner und Juristen heißt.

Als die Corona-Hysterie ihrem Höhepunkt entgegentrieb, war davon keine Rede mehr. Für das mit Abstand größte und teuerste Experiment in der Kulturgeschichte des Homo sapiens waren weder Aufklärung noch Zustimmung vorgesehen. Da die Politiker, die immer gern voranmarschieren, selbst nicht wußten, wohin die Reise geht, hielten sie Information und Billigung für überflüssig. Sie machten es wie die berühmte Reisegruppe, von der Mark Twain berichtet: Nachdem sie die Richtung verloren hatten, beschleunigten sie das Tempo. Noch jeder Irrweg, jeder Rückschlag, jede Enttäuschung ist von ihnen mit Durchhalteparolen und Klagen über die Not begleitet worden, die leider kein Gebot kenne. Wenn sie mit ihrem Latein am Ende waren, zogen sie die Experten hinzu, die dann auch lieferten, was man von ihnen verlangt (und gut bezahlt) hatte: die nächste Durchhalteparole.

Sie waren freilich vorsichtig genug, sich von den Folgen ihres Wagemutes frei zu zeichnen. Schon kurz nach seinem Aufbruch ins Blaue sah Jens Spahn, seinerzeit zuständig für Gesundheit und Volksaufklärung, eine Zeit voraus, in der, wie er sich ausdrückte, „wir uns einiges zu verzeihen“ haben werden. Politiker, meinte er, hätten es mit Unwägbarkeiten zu tun und könnten nicht immer richtigliegen. Immer falsch doch aber auch nicht; aber das sagte er nicht. In einer funktionierenden Demokratie hätten Minister, die mit ihren Behauptungen und ihren Maßnahmen so gründlich danebengelegen haben wie er und sein Amtsnachfolger Karl Lauterbach, nicht mehr viel zu sagen; sie hätten ausgespielt. In Deutschland spielen sie dagegen weiter.

Über das Virus, sagen beide, hätten sie hinzugelernt. Über das Virus – vielleicht. Sonst aber herzlich wenig. Spahn und Lauterbach sind nicht die einzigen, zur Zeit aber wohl die prominentesten Zeugen für das, was der Politologe Karl Deutsch im Auge hatte, als er, nur halb ironisch, Berufspolitikern das Privileg zuschrieb, nicht zu lernen; Karl Kraus war boshafter und sprach vom Recht, aus Schaden dumm zu werden. Das war zwar gut gesagt, nur leider viel zu kurz gegriffen, denn mittlerweile wollen alle möglichen Berufsgruppen, Verbände und Vereinigungen, Interessenvertreter und Standesherren an diesem Privileg teilhaben. Die Zivilgesellschaft hat mobil gemacht, auf ganzer Breite, wie von Habermas verlangt, und walzt nun alles vor sich nieder. Die gesellschaftlich relevant genannten Kräfte, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Kapitalisten und Aktivisten, Vegetarier und Nichtraucher, die Kirchen und die NGOs – sie alle wollen dabeisein. Und sind ja auch dabei.

Das Ergebnis ist eine neue, fortschrittliche Moral, deren Spuren überall erkennbar sind, auch in der Medizin. Die alte hippokratische Regel „Primum nil nocere“ – Vor allem: keinen Schaden anrichten! – gilt nicht mehr. Allein der Druck, unter dem die neuen Präparate entwickelt und gleich darauf dann auch schon eingesetzt, verimpft worden sind, ließ für eine gründliche Erprobung keine Zeit. Wirksamkeit und Unschädlichkeit sind nicht nach konventionellen Maßstäben untersucht oder gar bestätigt worden, weshalb die mit der Zeit einlaufenden Nachrichten über mangelhaften Eigen- und fehlenden Fremdschutz niemanden überraschen konnten, den Multifunktionär Frank Ulrich Montgomery wahrscheinlich auch nicht. Dennoch hielt er dagegen und beklagte sich öffentlich über die „Tyrannei der Ungeimpften“. Der Sturm, der danach losbrach, konnte ihm nicht viel anhaben, weil er als Chef des Weltärztebundes – Welt!Ärzte!Bund! –  drei Amulette trug, die ihn vor Ungemach bewahrten.

Montgomery konnte sich seiner Sache sicher sein, weil er die stärkeren Kräfte: Pharmaindustrie und Maskenproduzenten, Gewerkschaften und Krankenhäuser, Ärzte und Apotheker auf seiner Seite wußte. Am Ende kam dann auch noch der ehemalige Vorsitzende des Ethikrates, der Theologe Peter Dabrock hinzu; denn wo Gespenster Platz genommen, wird er sich gesagt haben, ist auch der Theolog’ willkommen. Ungeimpfte der Tyrannei zu bezichtigen, erklärte er in einem Beitrag zu einem vulgärwissenschaftlichen Fachorgan, sei vielleicht überspitzt, aber legitim. Die Handlungsfreiheit, die allen Menschen, sogar Impfmuffeln zustehe, schließe die Erlaubnis, andere zu schädigen, nicht ein, sondern aus. Unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht den kleinen Pieks zu verweigern, sei asozial und unsolidarisch. Die Mehrheit der Geimpften dürfe, nein: müsse der Minderheit der Ungeimpften zurufen: „Okay, wir tolerieren eure Freiheit; wir tolerieren aber nicht mehr, daß ihr diese Krankheit in unsere Kreise weiterverbreitet.“ Denn darauf laufe ihr Verhalten ja hinaus.

Woher ihm diese Erkenntnis gekommen ist, hat der Verfasser nicht gesagt; wahrscheinlich von ganz oben. Auf irdische Quellen konnte er sich jedenfalls nicht berufen, denn die Frage, ob er dem Risiko einer Weiterverbreitung durch schon Geimpfte nachgegangen sei, beantwortete ein Mitarbeiter des Impfstofffabrikanten Pfizer mit einem klaren Nein. Man weiß nur wenig, ist auf Erfahrung angewiesen, und die fließt spärlich. Mehr als Vermutungen, vorläufige Daten oder Evidenzen aus zweiter oder dritter Hand sind nicht zu haben; wer mehr will, bleibt auf die christliche Kardinaltugend, den Glauben angewiesen. In Sachen Impfschutz sollten wir uns aber lieber an die vorsichtigen als an die frommen Leute halten und nie vergessen, daß Politik den Umgang mit Wahrscheinlichkeiten pflegt, nicht mit der Wahrheit.

Wenn die Notwendigkeit, zu entscheiden, weiter reicht als unsere Fähigkeit, zu wissen, muß abgewogen werden: Gewinn gegen Verlust, Nutzen gegen Nachteil. Bei der Gesundheit ist das nicht ganz leicht, weil es neben der körperlichen ja auch die seelische und, wenn man der Weltgesundheitsorganisation (WHO) glauben darf, auch noch so etwas wie soziale Gesundheit gibt. Die beiden letzten Dimensionen kommen in den Lageberichten der Spahns und Lauterbachs allerdings nicht vor. Auf den Körper fixiert, haben sie die Seele und das soziale Umfeld aus dem Blick verloren und sich über die Ansprüche von Kindern genauso souverän hinweggesetzt wie über die Sehnsüchte von eingesperrten Pflegeheimbewohnern. Gesundheitspolitiker sehen in der Pandemie eine Generalprobe für das, was in einer auf acht Milliarden angeschwollenen Weltbevölkerung häufiger zu erwarten ist. Ihr Vorbild sind Milliardäre, die aus der Gesundheit eine Goldgrube und aus der Wohltätigkeit ein Geschäft gemacht haben.

Was jedes andere Geschäft ruinieren würde, die mangelhafte Qualität der Ware, stellt im Corona-Handel einen Vorzug dar, ist geradezu der Witz der Sache. Weil man so wenig weiß, muß man sich testen lassen, immer wieder. Wenn der Test anschlägt, geht man zum Arzt und läßt sich impfen, alle paar Monate von neuem. Hält der Schutz nicht vor, ist man verpflichtet, nachzulegen, aufzufrischen und so weiter: ein Bombengeschäft, das längst noch nicht zu Ende ist, denn wenn der Corona-Stern sinkt, taucht das Medusenhaupt von Long-Covid auf, einer rätselhaften, ebenso heimtückischen wie langwierigen Krankheit. Sie verrät sich in allen möglichen Symptomen, in Husten, Müdigkeit und Atemnot, Schlafmangel und Muskelschwund, Brustschmerzen, Vergeßlichkeit, Konzentrationsstörungen und Erschöpfungszuständen aller Art, kurz: Long-Covid ist überall und längst schon da. Damit erschließt sich ein neuer Markt, ein Supermarkt von unbegrenzten Möglichkeiten. Früher griff man in solchen Fällen zu Klosterfrau Melissengeist, heute begibt man sich zum Arzt oder gleich in die Klinik. Die ersten Spezialisten sind schon da, haben nachgerechnet und sind auf mindestens eine halbe Million Kandidaten gekommen, allein in Deutschland. Glänzende Aussichten für eine neue Covid-Industrie!

Corona war ein Markt, auf dem gemogelt und geschoben, falsch informiert und willkürlich abgerechnet worden ist. Alles hing an der Frage, wen die Beweislast trifft; und die traf immerzu die anderen. Nicht der Nutzen des Testens, Impfens und Verbietens mußte dargetan werden, sondern das Risiko des Beiseitestehens. Skeptiker hatten keine Chance, durften als Muffel, Querdenker oder Verschwörungstheoretiker angesprochen und öffentlich gebrandmarkt werden. Der Gesetzgeber, befand das Bundesverfassungsgericht in einem seiner kuriosen Urteile, habe davon ausgehen dürfen, daß sich geimpfte und genesene Personen seltener infizieren und das Virus deshalb auch seltener übertragen können als Ungeimpfte. So viel oder besser: so wenig genügte, um Freiheitsbeschränkungen zu verkünden, wie es sie zu Friedenszeiten noch nie gegeben hatte, zumindest nicht in Deutschland.

Das rächt sich nun. Sollte es jemals legitim gewesen ist, von einer Tyrannei der Ungeimpften zu sprechen, dann ist es mindestens genauso legitim, von einer Corona-Diktatur zu reden. Die Behauptung  „... schützt dich und andere“ war immer nur die halbe Wahrheit und deshalb eine ganze Lüge. Zu verzeihen gibt es da einiges, auf beiden Seiten allerdings. Mit gebeutelten Ärzten, verschreckten Kindern, ratlosen Eltern, hilflosen Verkäufern und verängstigten Pfarrern Mitleid zu haben, fällt mir nicht schwer, sie waren ja nur Opfer einer inszenierten Hysterie. Politikern zu verzeihen, die öffentlich erklärt haben, daß es Leute wie mich nicht mehr geben dürfe, weil ich weder geimpft noch genesen und immer noch am Leben bin, sehe ich aber keinen Grund. Sie haben ihr Amt mißbraucht und sollten abtreten. Daß wir Minister wie Jens Spahn losgeworden sind, betrachte ich als Glück, daß Karl Lauterbach sein Nachfolger geworden ist, als Unglück. Das größte Unglück, ein grüner Gesundheitsdiktator, ist uns jedoch erspart geblieben, und dafür bin ich dankbar.






Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, war Feuilletonredakteur der FAZ und Chefkorrespondent der Welt. Adam gründete die Alternative für Deutschland mit und war bis Juli 2015 einer der Bundessprecher. Er trat 2020 aus. 

Foto: Die Ketten des Coronavirus sind gelöst: Politik und Medien hatten sich in den drei vergangenen Jahren zu einem einseitigen Narrativ verstiegen. Corona-Leugner stellten das andere Extrem dar. Brauchen wir jetzt ein großes Verzeihen?