© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Der frühe ökologische Mahner
Dem Lebensphilosophen und Zivilisationskritiker Ludwig Klages zum 150. Geburtstag am 10. Dezember
Reinhard Falter

Vor 150 Jahren wurde Ludwig Klages in Hannover geboren. Bis zum Ersten Weltkrieg hauptsächlich als einer der Köpfe der „Kosmiker“ mit Stefan George und Alfred Schuler in München wirkend, wo er Chemie studiert, dann aber lieber von graphologischen Gutachten gelebt hatte, ging er als Kriegsgegner 1915 an den Zürichsee, wo er das Haus des von ihm sehr verehrten Dichters Conrad Ferdinand Meyer bewohnte. In der Schweiz entstanden alle seine Hauptwerke vom „Kosmogonischen Eros“ (1922) über den „Geist als Widersacher der Seele“ (1929–33) bis zur „Sprache als Quell der Seelenkunde“ (1948). 

Ludwig Klages, zu Lebzeiten einer der meistdiskutierten Denker, ist heute weitgehend vergessen, er ist ein typisches Opfer der zweiten und dritten Zerstörung der Vernunft: Nachdem er im Nationalsozialismus als Kriegsgegner, Verächter der Machbarkeit und des Machenschaftlichen und Pessimist verschrien war und der „Biozentrische Arbeitskreis“ seiner Schüler von der Gestapo verboten wurde, galt er in den pragmatischen Nachkriegsjahren als Irrationalist und Romantiker. Und in der heutigen Bundesrepublik erscheint er – wenn überhaupt noch bekannt – als Wissenschaftsfeind, Judenfeind und damit Wegbereiter des Faschismus. Zudem reicht schon die Ziseliertheit seiner Sprache, die als „literarischer Jugendstil“ bezeichnet wurde, aus, um von den Zöglingen bundesdeutscher Gesamtschulen nicht mehr verstanden zu werden. 

So haben wir – wie auch anderwärts, etwa bei Othmar Spann (1978–1950) – drei Zerstörungsschübe: Die erste Zerstörung ist die durch die Ideologisierung der Zwischenkriegszeit, die zweite die durch die Pragmatik nach 1945 und die dritte die Reideologisierung nach 1990.   

Naturschutz. An seinem hundertsten Geburtstag schien die Bedeutung von Klages vor allem in der Formulierung eines radikalen Naturschutzgedankens zu liegen. Auch direkte Schüler waren dabei aktiv. So neben Reinhold Weimann, Gerhard Helmut Schwabe und Theodor Haakh, der mithalf den Bund Naturschutz zum kämpferischen Verband zu machen. Von ersterem stammt der schöne Satz: Naturschutz sei der Rettungsversuch des aussterbenden Homo sapiens vor dem überhandnehmenden Homo faber. Damals erschien auch Wertkonservativen plausibel, daß Naturschutz sich politisch mit dem „mehr Demokratie wagen“ verbünden müsse, denn die Pseudokonservativen wollten nur immer von allem die größte Lösung, egal ob Flughafen oder Rhein-Main-Donau-Kanal, Atomkraftwerke oder Gewerbegebiete. 

Von Naturschutz ist bei den Grünen kaum mehr die Rede

Klages thematisierte die Innenweltzerstörung immer parallel zur Umweltzerstörung. Schon 1913 schreibt er: „Die meisten leben nicht, sondern existieren nur mehr, sei es als Sklaven des ‘Berufs’, die sich maschinenhaft im Dienst großer Betriebe verbrauchen, sei es als Sklaven des Geldes, besinnungslos anheimgegeben dem Zahlendelirium der Aktien und Gründungen, sei es endlich als Sklaven des großstädtischen Zerstreuungstaumels, ebenso viele aber fühlen dumpf den Zusammenbruch und die wachsende Freudlosigkeit. In keiner Zeit war noch die Unzufriedenheit größer und vergiftender.“ 

Ganz zu Anfang des Textes nennt Klages Fortschritt, Kultur und Persönlichkeit als die drei Reklameschlagwörter der Zeit. Setzt man die heutigen wie „Wirtschaftswachstum“, „jedes Leben zählt“ und „Klimaschutz“ entgegen, zeigt sich die nochmalige enorme Verdünnung der Seelensubstanz. Im heutigen Umweltschutz, der nur technische Löungen sucht, ist Klages auch als früher „Warner“ nicht mehr gern gesehen. Von Naturschutz ist bei den sogenannten Grünen kaum mehr die Rede, um so mehr von dem naturnegierenden Projekt eines Klimawandelstopps mit technischen Mitteln – unter völliger Ausklammerung folgender zentraler Tatsachen: Erstens befinden wir uns immer noch in einer Erwärmungsphase der letzten Eiszeit, definiert als Vereisung beider Pole. Und zweitens rangiert der Klimawandel unter den Faktoren des Artenschwundes ganz weit hinten.

Auf der anderen Seite belegen antiökologische, pseudorechte Ideologen wie David Berger und Jürgen Elsässer mit Zitaten von Klages, wie menschenfeindlich die Grünen seien, die ihn ihrerseits entweder vergessen oder als „Irrationalisten“ mit Zitierverbot belegt haben. Dahinter steckt mehr als Unkenntnis. David Berger hat in seinem hochtrabend „Philosophia perennis“ betitelten Forum mehrfach erklärt, daß seine Gesinnungsgenossen und die wirklichen Konservativen – genannt werden Götz Kubitschek und Björn Höcke – zwei unvereinbare Konzeptionen der Rechten hätten. Der Knackpunkt ist Bejahung versus Verneinung des „Fortschritts“. Die Spaltung wird kommen und wer das akzeptiert, kann den für seine Seite günstigeren Zeitpunkt wählen. 

Philosophie. Heute ist die Bedeutung von Klages wieder seine Metaphysik. Der wichtigste philosophische Gedanke von Klages ist, daß es ganz generell neben der kausalen  – und diese als Sonderfall umfassend – eine andere Weise von Beziehungen geben müsse, nämlich die von Sinn und Ausdruck in seiner klassischen Formulierung: „Der Leib ist der Ausdruck der Seele, die Seele ist der Sinn des Leibes.“ So betont Klages, Natur sei prinzipiell Ausdruckszusammenhang, auch schon zwischen Fluß und Ufer. Was die sich „Naturwissenschaft“ nennende Kausalforschung untersucht, ist nie Natur, sondern immer nur das mechanistische Eliminat. Sie ist systematische Zerstörung der eigentlichen Naturzusammenhänge nicht erst in der Praxis, sondern schon in der Theorie. Klages fragt schon 1913: „Lösten wir das Rätsel des Flüssigen weil wir Seen besser zu stauen, Ströme im Handumdrehen zu kanalisieren wissen und das heilige Element der Alten nur mehr nach Pferdekräften in Anschlag bringen?“ 

So gilt es zwei mögliche Erkenntnisrichtungen zu unterscheiden: Ein Botaniker wie ein Bauspekulant, die der Landschaft gegenüberstehen, sind auf Tatsachen bezogen, die vom Betrachter unabhängig sind, wenn es auch spezifsches Wissen braucht, um sie zu erfassen, (einmal Arten- das andere Mal Finanzmarkt-Kenntnis) und an der Findung von „Tatsachen“ immer eine den Wahrnehmungsgegenstand abgrenzende, das heißt definierende Tat beteiligt ist. Historische wie funktionalistische Wissenschaft hat mit Tatsachen zu tun. Was Klages entwickelt und „Erscheinungswissenschaft“ nennt, dagegen mit „Wesen“ als die Erscheinung Hervortreibendem. 

Heutige Universitätswissenschaft weiß von Erscheinungswissen nichts, nur von Objekten. Auch der sich gegen die Ideologisierung der Universitäten mutig stellende „Wissenschaftsphilosoph“ Michael Esfeld (JF 46/22) meint, Wissenschaft sei „objektiv“, das heißt, sie eruiere Objekte (Tatsachen), die nicht normbildend wirkten. Das ist naiv, denn die „Tatsachen“ sind immer schon Antworten auf Fragestellungen, die selbst schon „interessegeleitet“ sind. Indem die Pole des Ek-sistierenden als Subjekt und Objekt isoliert werden, soll Raum für die Freiheit ihrer Kombination im Dienst menschlicher Interessen gewonnen werden. Dabei wird negiert, daß die Pole immer schon von selbst, also  von Natur aus einen Zusammenhang haben, der zwar selbst nicht ek-sistent sondern nur in-sistent ist, aus dem sie aber allererst entstehen und durch Rückverbundenheit aufeinander bezogen bleiben. 

Tatsachen oder Fakten sind Pole von Dimensionen, diese sind nicht selbst faktisch. Der Wissenschaftler verdrängt gerne, daß jede Tatsache nur ein Ausschnitt ist und an der Findung von „Tatsachen“ immer eine den Wahrnehmungsgegenstand abgrenzende, definierende Tat beteiligt ist, die interessegeleitet ist, wie Klages’ Beispiel vom Bauspekulanten und Botaniker, die einen Wald betrachten, zeigt. Was der Wald wirklich ist, ist auch nicht durch Kompromiß zwischen Bauplanung und Artenschutz zu bestimmen. Den dritten Betrachter, den Klages anführt, den Landschaftsmaler gibt es heute nur noch als Freizeitexistenz, aber wie steht es mit dem Kind, das dort spielt und dabei sein Weltbild ausbildet?

Der aktuelle Energiehunger wird in heutigen Debatten in keine Relation gesetzt zu Interessen künftiger Generationen, anderer Lebewesen und erst recht nicht zu dem, was wir davon verstehen können, wie der Mensch als Schöpfungsgedanke oder als Organ der Erde gemeint ist, denn das gilt als subjektiv, da nicht objektiv errechenbar. Das zeigt aber nur, daß es zwischen Objektivität und Subjektivität ein Drittes geben muß, was nicht selbst Fakt und deshalb nicht der Wissenschaft, sondern nur dem mitvollziehenden Denken zugänglich ist.

Demokratie und Wissenschaft degeneriert durch Ideologisierung

Es gibt nicht nur die von Robert Spaemann betonte Unterscheidung von Etwas und Jemand (Ding und Person) sondern ein Drittes, nämlich „Sache“, Sachlichkeit (etwas ganz anderes als Objektivität) nämlich wesentlich Verhälnismäßigkeit, sucht den Sachzusammenhang. Und eben darum, um die Wirklichkeit, die erst ihre Pole „Dinge“ bildet, geht geht es in der Erscheinungs- oder Bedeutungswissenschaft von Goethe und Klages. Beispiel dafür ist ein Fluß, von dem Wasser und Ufer die Pole sind, zwischen dener er selbst der nichtgegenständliche Vollzug ist, der sie erst zu dem macht was sie sind. Ein anders Beispiel: Mann und Frau bilden das Generativum als „Sache“ oder „Spiel“, das dann als Generation erscheint. 

Ihr Ergebnis ist eher eine Verstehenskunst (Methode) als eine Ergebnis-Lehre. Und diese fehlt uns heute überall. Es gibt eine Heilkunst und eine Heiltechnik, ebenso Denkkunst und Denktechnik. Das Schlechte an heutiger Wissenschaft ist, daß sie die Stelle der Kunst besetzt und normativ sein will, obwohl sie nur das Zeug zum Dienen hat. Im Politischen analog: der Massenmensch, von Aristoteles „Sklave von Natur aus“ genannt, führt sich in der Demokratie als Herr auf. Klages Worte dazu klingen harsch: „Man übersieht dagegen zu oft nur, daß die sog. demokratischen Verfassungen, je demokratischer um so mehr, nie etwas andres waren als die geradesten Bahnen zur Herrschaft des Geldsacks.“ Und: „Der Geist der Wissenschaftlichkeit ist nur ein Teil oder richtiger Erscheinungsform desselben Geistes, der den neuzeitlichen Staat und letzten Endes den neuzeitlichen Kapitalisms ins Leben rief und noch wissen wir nicht, ob ihm ein längeres Dasein werde beschieden sein als etwa dem Geist der mittelalterlichen Scholastik!“ Kaum verstanden wird heute, daß Demokratie wie Wissenschaft nicht zufällig von scheinbarer Neutralität zu immer mehr Ideologiegehalt degenerieren. 

Der späte Klages hat in seinem Pessimismus die heutige Situation schon vorweggenommen: „Wie lange die nachgeschichtliche Menschheit noch fortbestehen wird, weiß niemand, nur das eine wissen wir (...) mit Wahrscheinlichkeit, daß es kraft rapider Entartung verhältnismäßig schnell geschehen dürfte, weil Abläufe parasitäre Charakters aufzehrende Abläufe sind und diesen früher oder später der ‘Stoff’ ausgeht. Die Vorzeichen dessen in Bezug auf den Menschen gewahren wir in allgemeiner Verblödung des Urteils, ja in unheimlich um sich greifender Borniertheit. Der sog. Amerikanismus (...) zeigt uns eine ans Idiotische steifende Hörigkeit der Einzelgeister gegenüber der ‘öffentlichen Meinung’, die ihrerseits hergestellt wird von der Presse (...) der Schaffende, soweit es derer noch gibt, hat Wert oder keinen Wert, je nachdem diese Presse es hinausbrüllt oder ’totschweigt’.“ Dieses Zitat habe ich in meiner Einführung von 2003 als mir damals zu pessimistisch weggelassen. Heute liest es sich einfach als Beschreibung des alltäglichen Geschwätzes von „Pandemie“, „Angriffskrieg“ und „Klimakatastrophe“.

Klages Einsichten zu beherzigen heißt heute: Einverstandensein üben mit der kommenden Ausgleichsbewegung der Natur, denn jeden Tag, den das System der organisierten Verantwortungslosigkeit weiter läuft, wird nicht nur Natur sondern Seelensubstanz und Kultur zerstört.






Dr. Reinhard Falter studierte Philosophie und Geschichte und ist Autor der Buches „Ludwig Klages: Lebensphilosophie als Zivilisationskritik“ (München 2003).

Fotos: Ludwig Klages, um 1930: Jeden Tag, den das System der organisierten Verantwortungs-losigkeit weiterläuft, wird nicht nur Natur, sondern Seelensubstanz und Kultur zerstört; Mitglieder des Münchner Kosmikerkreises 1902, Karl Wolfskehl, Alfred Schuler, Ludwig Klages, Stefan George, Albert Verwey (v.l.n.r): Neue Wege aus der verhaßten Moderne