© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Die Sichtweite lag bei nur dreißig Zentimetern
Der „Great Smog“ von London im Dezember 1952 kostete etwa 12.000 Menschen das Leben / Später verbesserten Immissionsschutzgesetze die Lage
Thomas Schäfer

Nebel gehört zu London wie Big Ben und die Tower Bridge, sagt das Klischee. Tatsächlich sind eher ständige Regenschauer das übliche Wetterphänomen als trübe Schwaden über der Themse. Nachdem das Herz des britischen Empire im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zur bevölkerungsreichsten Stadt der Welt avancierte, war das anders. Der damalige Nebel war allerdings immer öfter schmutziger, den Atem raubender Smog. Das geschah während sogenannter Inversionswetterlagen: Die schwere kalte Luft klebte am Boden und die wärmere leichtere Luft legte sich wie eine Glocke darüber. Dann beheizten die Londoner ihre Millionen von Öfen mit besonders viel Kohle und sorgten dadurch für dichte schwefelhaltige Rauchschwaden. Zusammen mit dem gleichzeitig noch freigesetzten Ruß entstand so ein höchst gesundheitsschädliches Gemisch. Derartige Smogereignisse gab es unter anderem 1873, 1880, 1882, 1891, 1904 und 1948.

Was sich dann am 5. Dezember 1952 zusammenbraute, sollte freilich alles bisher Dagewesene übertreffen. Denn jetzt kamen noch drei Faktoren hinzu: Zum ersten fuhren anstelle der alten elektrischen Straßenbahnen Diesel-Busse durch die Stadt, zum zweiten verfeuerten die Menschen überwiegend Kohle minderer Qualität mit einem hohen Anteil an Luftschadstoffen, weil die bessere exportiert wurde. Das war notwendig, um den kriegsbedingt ruinierten Staatshaushalt zu sanieren. Zudem stand für alle britischen Nachkriegsregierungen die Versorgung der Bevölkerung im Vordergrund. Zum dritten bliesen nunmehr drei große Kohlekraftwerke in Battersea, Bankside und Kingston ihre Abgase in den Himmel.

Dennoch schien am Morgen des 5. Dezember zunächst noch die Sonne, bevor dann ab dem Mittag des gleichen Tages die ersten Nebelschwaden durch die Straßen zogen. Danach ging alles ganz schnell: Die Sichtweite nahm von Stunde zu Stunde ab und betrug schließlich gegen 16 Uhr lediglich noch einen Meter. Gleichzeitig schlug sich der Ruß nieder und schwärzte die Kleidung der Leute bis auf die Unterwäsche. Der Smog kroch selbst in die Gebäude hinein, so daß Theater- und Kinovorstellungen abgebrochen werden mußten. In der Oper vermochten die Zuschauer die Akteure auf der Bühne nicht mehr zu erkennen.

Am chaotischsten ging es indes auf den Straßen zu: Die Autofahrer ließen ihre Wagen stehen und irrten zu Fuß nach Hause, weil die Busse ebenfalls den Verkehr eingestellt hatten. Am Ende fuhren nicht einmal mehr die Ambulanzen, weswegen die an Atembeschwerden Leidenden auf andere Weise in die Kliniken gelangen mußten. Dort versuchten die Ärzte, den schädlichen sauren Nebel durch das kontrollierte Ablassen von Ammoniakgas zu neutralisieren. In einigen Krankenhäusern sucht man sogar Rat bei militärischen Experten für Chemische Waffen. Außerdem wurden Mund-Nase-Masken verteilt, welche jedoch wenig nützten, zumal sich die Situation am 6. Dezember noch weiter verschlimmerte: Nunmehr lag die Sichtweite lediglich noch bei 30 Zentimetern. 

Während der Smog-Katastrophe starben zunächst die Tiere auf den Londoner Viehmärkten und dann bald auch immer mehr Menschen. Heute geht man von rund 12.000 Toten aus, wobei es vor allem Kleinkinder, chronisch Kranke und Ältere traf. So stieg die Sterberate bei den Personen über 65 um 235 Prozent. Die fatale Wirkung des „Great Smog“ resultierte daraus, daß er Schwefelsäure enthielt, die aus der Vermischung von Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Wasser entstand.

Durchatmen konnten die Londoner erst am 9. Dezember 1952, als starker Südwestwind einsetzte. Nachfolgend weigerte sich der für den Katastrophenschutz zuständige Minister Harold Macmillan, welcher später noch zum Premierminister aufstieg, Lehren aus dem Ereignis zu ziehen: Die Regierung könne „nicht für das Wetter verantwortlich gemacht“ werden. Deshalb dauerte es letztlich bis 1956, ehe der „Clean Air Act“ erste konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität vorschrieb. Diese reichten jedoch nicht aus, weswegen 1962 erneut dichter Smog über London lag. Daraufhin erfolgte 1968 eine Verschärfung der Gesetze. Seither gilt beispielsweise das Verbot, in den britischen Großstädten mit Holz- oder Kohle zu heizen.