© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Einen Krieg nicht Krieg nennen
Rainer Thesen analysiert den Krieg Rußlands gegen die Ukraine aus rein völkerrechtlicher Perspektive – aber nicht nur
Konrad Löw

Der Autor Rainer Thesen, Jahrgang 1946, ist Rechtsanwalt und Oberst der Reserve. Er ist also bestens qualifiziert, um das hochaktuelle, hochbrisante Thema sachgerecht abzuhandeln. Daher schließt sein Text, trotz der Fülle einschlägiger Publikationen über den Ukrainekonflikt, eine echte Lücke. Vor allem kommen jene Leser auf ihre Kosten, die den erschreckenden Sachverhalt nicht nur moralisch, sondern auch völkerrechtlich beurteilen möchten. Auf die 70 Seiten Betrachtungen folgen 140 Seiten Dokumente, beginnend mit Auszügen aus der Charta  der Vereinten Nationen und endend mit der Ansprache des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, im Deutschen Bundestag am 17. März 2022. Auch Putin kommt ausführlich zu Wort, so mit der Rede an die Nation am 21. Februar 2022.

Einleitend skizziert Generalmajor a.D. Jürgen Reichardt den „Traum vom Völkerrecht“, der uns hoffen läßt, dem ewigen Frieden näher zu kommen, obwohl auf diesem Wege der Westfälische Frieden von 1648 schon einen später nicht mehr erreichten Höhepunkt bildet – und Versailles den Tiefpunkt.

Zunächst prüft der Autor Putins Kriegserklärung, die Bekanntgabe des Krieges, der in seinem Machtbereich nur militärischer Spezialeinsatz genannt werden darf, weil der Angriffskrieg doch geächtet ist, ein geradezu klassisches Exempel für Totalitarismus im Bereich des Geistes. Das Gewaltverbot ist, wie Thesen ausführt, eines der grundlegenden Prinzipien des Völkerrechts, es sei denn es liegt eine der Ausnahmen vor, so eine Intervention auf Beschluß des Sicherheitsrates der Uno, eine Selbstverteidigung oder die Ausübung des Beistandsrechts bei einem bewaffneten Angriff auf einen Mitgliedsstaat. Ersichtlich ist dies hier zugunsten Rußlands nicht der Fall. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Verträgen, die das Verhältnis zwischen der Sowjetunion/Rußland einerseits und der Ukraine andererseits regeln und die territoriale Integrität der beiden Staaten garantieren.

Eingehend befaßt sich Thesen auch mit dem Selbstbestimmungsrecht. Nach allgemeiner Ansicht der Völkerrechtler kommt Teilen eines Staatsgebietes, so den Bewohnern der Krim, kein Selbstbestimmungsrecht zu. „Ist das Gewaltverbot der UN-Charta gegenstandslos geworden?“ lautet eine weitere Kapitelüberschrift. Ferner gelangen die Reaktionen der Uno und der EU zur Darstellung. Doch ein Patentrezept zur Durchsetzung des Rechts auch gegen die Weltmächte gibt es nicht.Wird man durch Waffenlieferungen zum Kombattanten, durch die Ausbildung von Kämpfern der am Konflikt Beteiligten zur Kriegspartei? Auch „Freischärler/Partisanen“ und „Söldner“ werden rechtlich gewürdigt.

Im Ergebnis stimmen Thesens Sondierungen zwar weitgehend mit der herrschenden pro-ukrainischen Meinung in den bundesdeutschen Medien überein, wonach die russische Annexion der Krim 2014, Putins Intervention zugunsten der „Republiken“ Donezk und Lugansk sowie schließlich der gegen die Ukraine geführte „Angriffskrieg“ das Völkerrecht rüde verletzten. In einem Nachwort verdeutlicht der Autor jedoch, daß die Betrachtung des Krieges aus dem Blickwinkel des Völkerrechts nicht genügt, zumal längst nicht alles, was rechtlich unbedenklich ist, auch umgesetzt werden muß. Damit beschränkt sich seine Arbeit glücklicherweise nicht allein auf die juristische Perspektive, sondern erweitert sie historisch-geopolitisch. 

Deutschland hat sich eindeutig auf seiten der Ukraine positioniert

Obwohl Thesen hier leider nur anreißt, was deutsche Medien und das Gros der von ihnen konsultierten „Experten“ notorisch verschweigen: die Rolle der in diesem Konflikt ihre strategischen und wirtschaftlichen Interessen „mit durchaus zweifelhaften Mitteln“ verfolgenden USA. „Deutschland hat sich von Beginn (…) an eindeutig als Unterstützer der Ukraine positioniert. Politisch ist das der Verankerung in den Bündnissen Nato und EU geschuldet.“ Er wirft die Frage auf, ob das auch von Rechts wegen so betrachtet werden muß und bezweifelt, ob man nach Beendigung des Krieges feststellen wird, „Deutschland habe sich in jeder Hinsicht richtig verhalten“. Er verweist auf die alte Schulweisheit: „Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende.“ Doch wie soll man das Ende bedenken, das niemand kennt? Und wie verhält man sich richtig? Darauf weiß jede Weltanschauung eine andere Antwort, und die der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 wird nicht von allen geteilt. Einer sagt: Lieber tot als rot, ein anderer: Lieber rot als tot. Auf jeden Fall ist eine Diktatur verachtenswert, in der man einen Krieg nicht einen Krieg nennen darf.






Prof. Dr. Konrad Löw ist Staatsrechtler und Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Universität Bayreuth.

Rainer Thesen: Tatort Ukraine. Völkerrechtliche Betrachtungen. Book-Today, Bonn 2022, gebunden, 210 Seiten, 24,80 Euro

Foto: Ausbildung ukrainischer Soldaten auf einem Übungsplatz der britischen Armee in Südengland, Oktober 2022: Macht die Nato sich mit der Ausbildung von Kämpfern zur Kriegspartei?