© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Die Clowns warteten nur auf eine Gelegenheit
Mit seinem Novellenband nimmt Volker Mohr mentale Verformungen durch einen nur vermeintlich sanften Totalitarismus in den Blick
Günter Scholdt

Selbst in der Tristesse unserer systemfrömmelnden Gegenwartsliteratur zeigen sich – meist im Windschatten der Aufmerksamkeit – immer wieder erfreuliche Ausnahmen. Zu ihnen gehört der 1962 in Schaffhausen geborene Schweizer Architekt Volker Mohr, der die deutschsprachige Belletristik seit Jahren bereichert. 2021 überzeugte sein Novellenband „Unter Menschen“ als episches Panorama unserer „Schönen neuen (Corona-)Welt“. „Der verlorene Himmel“ setzt solche Tendenzen fort und richtet den Blick auf mentale Verformungen durch einen nur vermeintlich sanften Totalitarismus. Was der Autor dabei in reizvoll modellhafter erzählerischer Verfremdung beobachtet und folgert, besticht als literarische Umsetzung massenpsychologischer Prozesse. 

Geboten werden in des Wortes vollster Bedeutung unheimliche Geschichten, Grotesken, Parabeln, Traumszenarien mit aktuellen Bezügen, die sich im Sinne unserer postdemokratischen Global-agenden politisch füllen lassen. Sie erinnern an Ionesco, Mrożek, Orwell oder Kafka, an Kusenberg, Kasack oder Hildesheimer, die in den Jahren um den Zweiten Weltkrieg aus einer zunächst befremdlich erscheinenden Warte soziale Abläufe musterten. Die Verbindung mit Kafkas weltliterarischer Prominenz muß nicht erschlagen. Geht es doch vornehmlich um das Aufzeigen atmosphärischer Analogien. Und Monströses beschränkt sich nun mal nicht auf Epochen, die man zu Recht oder Unrecht besonders dämonisiert hat. 

Maschinenwelt setzt zum Kampf auf den Menschen an

Welche Handlungen werden vor uns ausgebreitet? Eine lebensbedrohliche Maschinenwelt setzt zum Kampf auf den Menschen an („Die Schatten“). Das Erscheinen eines kleinen Engels provoziert unsere genormte Gesellschaft ähnlich wie Dostojewskis Jesus den Großinquisitor. In „Das System“ richtet sich ein zeitgemäßer Bildersturm im Kern gegen den nonkonformistischen Menschen. „Der Sturz der Titanen“ propagiert angesichts einer Lage, in der es ums Ganze geht, den Verzicht auf alles, was einem eigentlichen Leben im Wege steht. 

Die längste Geschichte des Bands illustriert die Herrschaft gefährlicher Clowns, die allen ihre Pappnase aufzwingen. Wer sich weigert, gilt als spielverderbender „Querulant“. Hier werden realsatirische Elemente so eng an die Gegenwart herangeführt, daß man geneigt ist, einiges wortwörtlich auf die aktuellen Narreteien unserer Politclowns zu beziehen. Wichtiger und grundsätzlicher ist die Diagnose einer Zeitenwende im weitesten Sinne: „Wie war das alles nur möglich? Von einem Tag auf den anderen hatte sich die Welt grundlegend verändert. Oder hatte er den Wandel nicht bemerkt? Hatte er nicht gesehen, daß die Clowns nur auf eine Gelegenheit warteten, daß sie dicht gedrängt am Tor der Zeit standen, um endlich herüberzukommen, sobald dieses sich nur einen Spaltbreit öffnete? Arensberg wußte es nicht. Er wußte nur, daß er jetzt außerhalb der Zeit stand oder zumindest im Begriff war, aus der Zeit hinausgedrängt zu werden. Aus der Zeit oder vielmehr aus seinem Leben.“ 

Höhepunkt des Bandes ist „Das Urteil“, in dem der Protagonist vergißt, das obligatorische „Rautensymbol“ an seinem Sakko zu befestigen. Daraus resultiert eine Folge von Behelligungen, die letztlich mit dem Todesurteil enden. Resignierend akzeptiert er es angesichts der Alternative, sonst der Menge auf der Straße ausgeliefert zu werden. Was mit der „freundlichen“ Erinnerung eines Angestellten beginnt, steigert sich von Instanz zu Instanz über Fallstricke rabulistischer Textauslegung bis zum Hochgericht. Dabei wird stets die Fiktion von Freiwilligkeit beziehungsweise freiheitlich-rechtsstaatlicher Tradition gewahrt, und die polizeiliche Vernehmung beginnt mit dem Zynismus: „Ich rechne es Ihnen hoch an, daß Sie zu mir gekommen sind.“ Der darauf folgende Dialog darf zugleich als engagierter Autorenkommentar verstanden werden: „Ich hatte tatsächlich die Wahl?“ … / „Man hat immer die Wahl. – Vielleicht nicht immer, aber öfter, als wir denken.“ Ein gewichtiges zeitgemäßes Wort. Auch dies begründet das Fazit: Die Lektüre Volker Mohrs ist nachdrücklich zu empfehlen.






Prof. Dr. Günter Scholdt ist Historiker und Germanist und war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß.

Volker Mohr: Der verlorene Himmel. Loco Verlag, Diessen-hofen/Schweiz 2022, gebunden, 130 Seiten, 22 Euro