© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Das Aschenputtel als Notnagel
Mit Flüssigerdgas wollen die deutschen Energiewender ihre Insolvenz verschleppen
Christoph Keller

Vier Wochen nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs flog Robert Habeck ins Emirat Katar, um bei Scheich Tamim bin Hamad Al Thani Gas zu erbetteln: Denn „Deutschland hat sich abhängig gemacht von Putin. Wir fördern kein Erdgas mehr bei uns, wir fördern kein Öl mehr bei uns, wir fördern keine Kohle mehr bei uns, wir wollen kein amerikanisches Fracking-Gas“, sagte der um die richtigen Worte ringende grüne Wirtschaftsminster am 20. März in eine ARD-Kamera. Daher müsse man „jetzt mit verschiedenen Partnern, die ihre Eigenheiten haben, versuchen in Gespräche zu kommen“.

Angesichts der Freude über die versprochene „Energiepartnerschaft“ ging unter, daß Habeck „Fake News“ verbreitet hat: Deutschland hat 2018 seine letzte Steinkohlezeche geschlossen, aber 2021 den Braunkohleabbau von 107,4 auf 126,3 Millionen Tonnen gesteigert. 1,8 Millionen Tonnen Erdöl wurden gefördert – 58 Prozent davon in Schleswig-Holstein, wo Habeck sechs Jahre Umweltminister war. Das deckte zwei Prozent des deutschen Bedarfs von 86,2 Millionen Tonnen. Bei Erdgas deckte die heimische Förderung von 5,2 Milliarden Kubikmetern voriges Jahr sogar fünf Prozent des Verbrauchs.

Vorige Woche wurde verkündet, daß der Staatskonzern Qatar Energy von 2026 bis 2041 jährlich zwei Millionen Tonnen Flüssigerdgas (LNG) an Deutschland verkaufen werde. Allerdings nicht direkt, sondern über den texanischen Konzern ConocoPhillips. Zwei Millionen Tonnen LNG sind etwa 2,75 Milliarden Kubikmeter Pipelinegas. Das entspricht lediglich der Hälfte der deutschen Gasförderung oder knapp 30 Terawattstunden (TWh). 2021 wurden in Deutschland – für Heizung, Industrie, Handwerk und Kraftwerke – allerdings 1.016 TWh Erdgas verbraucht. Doch die Herren über die drittgrößten bekannten Gasreserven der Welt verkaufen ihren Rohstoff lieber nach Ostasien oder an europäische Partner, die mehr Respekt zeigen.

Der versprochene Abschied vom fossilen Zeitalter wird nun vertagt

Hinzu kommt der ökologische Fußabdruck, den das LNG aus Arabien und die teure Lieferalternative aus „amerikanischer Fracking-Förderung“ hinterlassen wird. Den Aberwitz dieses „Deals“ schildert anschaulich der Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Bild der Wissenschaft (10/22). LNG sei lange das „Aschenputtel der Energiebranche“ gewesen. Es wurde als viel zu teuer klassifiziert, als technisch zu aufwendig und in seiner CO2-Bilanz schlechter als jenes Erdgas, das durch Pipelines aus Rußland nach Europa strömte. Deutschland deckte mit russischem Pipelingas die Hälfte seines Gasverbrauchs (500 TWh). Der Anteil norwegischen Pipelinegases lag bei 30 Prozent.

Doch seit dem „Wirtschaftskrieg gegen Rußland“ (Sahra Wagenknecht) ist LNG zum „Notnagel und Hoffnungsträger gleichzeitig“ geworden – ungeachtet seiner Hürden: Um Erdgas zu verflüssigen, muß es auf minus 160 Grad Celsius heruntergekühlt und auf ein 600stel seines Volumen reduziert werden. Dafür sind Großanlagen erforderlich, von denen Spezialschiffe dieses „geschrumpfte“ Gas übernehmen. In den Zielhäfen braucht es riesige Terminals, an denen das LNG angelandet, erwärmt und so in Gas rückverwandelt wird, das die Verteilernetze aufnehmen können. All das verursacht enorme Energiekosten.

Addiere man dazu die Kosten für das „maximal klimaschädliche Schweröl“ der LNG-Tankermotoren sowie ihre saftigen Liegegebühren hinzu, werde Habecks Geschäft deutlich teurer als Förderung, bei der das aus der Erde geholte Gas direkt in Pipelines fließt. 2020 kostete Erdgas Privathaushalte im Schnitt knapp sechs Cent pro Kilowattstunde (kWh), im September 2022 waren es über 15 Cent – für 2023 wird mit über 20 Cent gerechnet. Die „Gaspreisbremse“, die 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs von März 2023 bis April 2024 auf zwölf Cent heruntersubventionieren und auch der Wirtschaft beim Überleben helfen soll, kostet die Steuerzahler für ein Jahr etwa 54 Milliarden Euro – die Kfz-Steuereinnahmen von fünfeinhalb Jahren. Kein Wunder daher, daß LNG hierzulande bislang als „unwirtschaftlich“ galt. Deutschland hat deshalb – anders als Belgien, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kroatien, Litauen, die Niederlande, Polen, Portugal und Spanien – auf eigene LNG-Terminals verzichtet.

Daher mußten nun Provisorien her: Floating Storage and Regasification Units (FSRU), also Spezialschiffe, an denen die LNG-Tanker festmachen sollen und die über kilometerlange Pipelines ans Erdgasfernleitungsnetz angeschlossen sind. Die erste FSRU soll am 23. Dezember bei Wilhelmshaven in Betrieb gehen. Uniper leiste „so schnellstmöglich einen erheblichen Beitrag zur zukünftigen Diversifizierung“ der deutschen Energieimporte, verkündete der mit Steuermilliarden „gerettete“ Energiekonzern. Was Schröder auch unerwähnt läßt: Diese FSRU, so höhnt die Deutsche Umwelthilfe, habe Habeck von der „Resterampe“ weg gechartert. Denn im australischen Bundesstaat Victoria sei der zuvor im Hafen Tianjin (China) eingesetzten „Höegh Esperanza“ wegen Umweltbedenken keine Betriebserlaubnis erteilt worden. Aber dank des neuen LNG-Beschleunigungsgesetzes verhinderte dieses Handicap nicht seinen Einsatz im Jadebusen.

Definierte Verfahren für Bau- und Umweltplanung außer Kraft gesetzt

Der Start der FSRU im vorpommerschen Lubmin verschiebt sich dennoch – dort wurden über 1.000 Einwendungen gegen das Projekt eingereicht. Es geht um mögliche Schäden für das Vogelschutz- und Heringslaichgebiet im Greifswalder Bodden, Wärmeausbreitung durch Kühlwasser und Gasexplosionsgefahren für Industrieanlagen sowie das atomare Zwischenlager im stillgelegten AKW Lubmin. Daß vor Wilhelmshaven eines der wenigen Kies- und Muschelschill-Gebiete an der Nordseeküste mit einer ganz speziellen, schon durch den Bau erheblich gestörten Tierwelt liegt, kümmert Habeck nicht. Was Holger Freund, Chef des Naturschutzvereins Mellumrat, empört: Obwohl es in Deutschland klar definierte Verfahren für Bau- und Umweltplanung gebe, seien sie hier dreist außer Kraft gesetzt worden. Man habe einfach mit dem Bau begonnen, ehe die Genehmigung vorlag.

Zudem werde die Energiewirtschaft von der Ampel-Koalition darauf eingeschworen, künftig auf klimaneutralen „grünen Wasserstoff“ zu setzen. Durch Elektrolyse-Anlagen soll mit Sonnen- und Windstrom aus Wasser (H2O) Wasserstoff (H2) hergestellt werden. Da könnte sich ein Zielkonflikt anbahnen: Die teure LNG-Infrastruktur ist auf langjährige Betriebszeiten ausgelegt und mit langfristigen Lieferverträgen verknüpft. Darum müßten die Terminals so konstruiert sein, daß sie „H2-ready“ sind, mahnt Cyril Stephanos, Leiter des Projekts Energiesysteme der Zukunft bei der Akademie für Technikwissenschaften in Berlin.

LNG-Infrastruktur in der EU:

 www.consilium.europa.eu

 www.bdew.de

Foto: Entladung eines LNG-Frachters an einem Erdgas-Terminal: Ist diese Infrastruktur künftig auch für die „grüne“ Wasserstoffwirtschaft eines „klimaneutralen“ Deutschlands geeignet?