© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Der Flaneur
Kuscheln oder frieren
Paul Leonhard

Der Express ist ausgefallen. Ohne Angabe von Gründen. Aber da kein Unwetter tobt, können es eigentlich nur zwei sein: Entweder ist der Zug kaputt (aber man arbeitet schon dran) oder es fehlt an Personal (das ist dann ausweglos). Weil offenbar niemand mehr Lok- beziehungsweise Triebwagenführer sein will, fährt in Dresden die S-Bahn bis vorerst Februar laut Aushang nach einem „Notfallfahrplan“ und der Bustakt in den Kreisen wurde ebenfalls, „vorausblickend“ und natürlich im Interesse der Kunden, wie es heißt, ausgedünnt.

Zumindest bin ich nicht umsonst zum Bahnhof gehetzt. Diesmal habe ich zuvor tatsächlich im Internet nachgeschaut. Erfahrung macht klug und ich wollte nicht wie vor einem Monat, wegen Totalausfall auf der Strecke – warum konnten damals auch die ebenfalls auf dem Bahnsteig wartenden Bahnangestellten nicht sagen, sondern nur, daß frühestens um ein Uhr morgens wieder etwas fahre – die Nacht statt bei der Familie in einem Hotel verbringen.

Die Zugbegleiterin spricht die Passagiere nicht per Lautsprecher an, sondern ganz persönlich.

Diesmal fährt wenigstens der Bummelzug. Er steht sogar schon da und man darf einsteigen. Am Ende wird er sogar auf die Minute pünktlich ankommen, so daß ich im kurzen Sprint noch einen laut Fahrplan gar nicht vorgesehenen Anschluß schaffe, weil dieser Verspätung hat, was mir glatt eine Stunde Warterei erspart.

Und auch der Kontakt mit der Zugbegleiterin war herzlich. Die war richtig um ihre wenigen Fahrgäste besorgt. Denen teilte sie nicht etwa über Lautsprecher, sondern ganz persönlich mit, daß auf der gesamten linken Seite des Waggons die Heizung nicht funktioniere und wem es zu kalt sei, der solle sich doch nach rechts setzen oder einfach etwas zusammenrücken. So werden Kontakte geschlossen. 

Das aus Schlesien in Richtung Mitteldeutschland reisende japanische Pärchen kicherte ob so viel Fürsorge unentwegt, auch weil die Schaffnerin nach jedem Zustieg auf den unzähligen Bedarfshalten ihren Spruch wiederholte. „Wegen Kälte ein wenig zusammenrücken“ dürften die beiden zurück in ihrer Heimat als wichtigsten aktuellen deutschen Begriff zum besten geben.