© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/22 / 16. Dezember 2022

Marokkaner im Siegesrausch
Avantgarde vom Atlas
Fabian Schmidt-Ahmad

Sport, so eine soziologische These, ist die Domestikation unserer kriegerischen Triebe. Schlachtengesänge und Kriegsbemalung, das Stadion als letztes Refugium tribalen Erbes in einer sonst durchzivilisierten Welt. Umgekehrt können Sportereignisse aber auch zu Projektionen von Gemeinwesen werden. Der Kampf auf dem Spielfeld wird so zu einer geheimnisvollen Einheit von Spielern und sie anfeuernden Anhängern erhöht, die in diesem gemeinsamen Ringen zu einer Schicksalsgemeinschaft verschmelzen – oder eben nicht.

Längst hat die Durchideologisierung sämtlicher Lebensbereiche auch der Deutschen liebste Sportart, den Fußball, erfaßt. Mit dem Ergebnis, daß sich kaum einer für die derzeitige Fußballweltmeisterschaft in Katar interessiert, einschließlich der Spieler selbst. Was vom peinlichen Kurzauftritt der Deutschen in Erinnerung blieb – elf Politkommissare sollt ihr sein! – waren Beleidigungen des Gastgebers, dessen Gas man trotzdem nimmt. Die übliche deutsche Hybris und Bigotterie halt.

Technisch schlechtere Spieler, die aber als Mannschaft wie im Rausch von Sieg zu Sieg eilen, sind dagegen die Marokkaner. Und mit jedem Sieg der „Löwen vom Atlas“ brennen die belgischen, die französischen Vorstädte, wächst das Selbstbewußtsein junger Orientalen in Europa. Sport als Domestikation des Tribalismus, das war einmal. Jetzt ist er die Avantgarde.