© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/22 / 16. Dezember 2022

„Das ist hier mittlerweile Alltag“
Am Ziel: Über die Grenze nach Deutschland zu kommen, ist für Illegale fast kein Problem / Teil 5 und Schluß des JF-Migrationsreports
Hinrich Rohbohm

Gerade ist es wieder geschehen. Westlich von Altenmarkt, einem 4.000-Einwohner-Dorf im oberbayerischen Landkreis Traunstein, unweit der deutsch-österreichischen Grenze. Schleuser haben am Montag bis zu 20 Migranten ins Land geschmuggelt. Sie haben sie einfach in dem Ort abgesetzt, zuvor vermutlich mit einem Lastwagen über die Grenze gebracht. Bürger vor Ort alarmierten die Polizei. Per Hubschrauber fahnden die Einsatzkräfte nach den illegal Eingereisten, rufen die Bevölkerung zur Mithilfe auf. Wie so oft in den vergangenen Monaten.

„Das ist ja mittlerweile Alltag hier“, erzählen Anwohner, als sich die JUNGE FREIHEIT im Grenzort Freilassing umhört. „Sie kommen auf allen Wegen. Im Auto, mit Lastwagen, im Zug, sogar zu Fuß“, erzählt eine Rentnerin. Einige Wochen zuvor hatte die Polizei früh morgens zwei Aserbaidschaner, einen 62 Jahre alten Vater und seine Tochter, in einem Kleinwagen gestoppt. Sie hatten sieben türkische Staatsbürger zwischen Kofferraum und umgeklappter Rückbank gequetscht. Offensichtlich wollten sie die Personen im Alter zwischen fünf und 39 Jahren nach Deutschland schmuggeln. Die Schleuser kamen in Untersuchungshaft. Von den Türken wurden jedoch nur drei der sieben zurück nach Österreich abgewiesen. Die vier anderen erreichten ihr Ziel, stellten ein Asylgesuch und wurden in eine deutsche Asylunterkunft gebracht.

Ein Vorgang der verdeutlicht, daß selbst bei einer aufgeflogenen illegalen Einreise aus einem sicheren Land heraus eine Rückführung keineswegs selbstverständlich ist. An den Grenzübergängen in Freilassing und Kiefersfelden holen die Einsatzkräfte regelmäßig illegal einreisende Migranten aus Fernbussen heraus, ebenso aus den Waggons der Eisenbahn. 

Letzte Bahnstation vor Freilassing: die österreichische Stadt Salzburg. Tagsüber sind hier nur wenige Migranten auszumachen, die sich auf der Durchreise Richtung Deutschland befinden. Das ändert sich in den Abendstunden. Mehrere Gruppen Syrer und Afghanen kommen in die Bahnhofshalle. Auch Afrikaner und Personen aus Bangladesch.

Es folgt das übliche Spiel: Kundschafter forschen die Lage aus, sehen sich auf den Bahnsteigen um. Präziser: auf jenen Bahnsteigen, von denen Züge nach Deutschland abfahren. Handys werden gezückt, Messenger-Nachrichten geschrieben. Schließlich gehen sie zurück zu den oft im Kreis dicht zusammenstehenden Menschengruppen in der Bahnhofshalle. Fast ausschließlich sind es junge Männer. Sie stecken die Köpfe zusammen, beratschlagen sich.

Keine Kontrollen auf österreichischer Seite

Wenig später gehen drei von ihnen zum Fahrkartenschalter, wollen sich Tickets holen. Einer der Männer vor dem Verkaufstresen hat einen großen Rucksack dabei, bei einem weiteren aus dem Trio sticht die löchrig-zerschlissene Jeans ins Auge. Daß sie illegal nach Deutschland einreisen wollen, ist offensichtlich. Der Fahrkartenkauf in Österreich: kein Problem. Kein Ausweisdokument muß vorgelegt werden; keine Fragen, keine Kontrollen. Auch nicht bei zwei Afrikanern, die sich ebenfalls Tickets nach Deutschland besorgen. In beiden Fällen sind es die preisgünstigeren für den Regionalzug.

„Jeden Tag kommen Flüchtlinge und kaufen sich Fahrkarten bei uns. Warum und weshalb merken wir natürlich auch, aber das ist dann Aufgabe der Polizei“, erklärt der Verkäufer am Schalter der Österreichischen Bundesbahn. Doch von Ordnungshütern ist im gesamten Bahnhof nichts zu sehen. Laut bayerischem Innenministerium ist die illegale Einwanderung in den Freistaat in diesem Jahr schon deutlich angestiegen. Von Januar bis August 2021 zählte die Bundespolizei an den Grenzen dort 8.854 unerlaubte Einreisen, im selben Zeitraum 2022 waren es 15.369.

Mittlerweile ist es 17.10 Uhr. Ein Regionalzug aus Bayern mit Ziel München steht auf Gleis 5, wird in wenigen Minuten abfahren. Hektik bei den Fahrgästen. Mehrere Abteile des Zuges sind verschlossen. Die Leute quetschen sich in die wenigen geöffneten Waggons. „Warum machen sie die anderen Wagen nicht auf, wir stehen hier wie die Ölsardinen“, beschwert sich eine Frau bei der am Gleis stehenden österreichischen Security. „Da können wir nichts zu sagen, wenden Sie sich an einen deutschen Schaffner“, entgegnet der Sicherheitsbedienstete. Auch er und seine Kollegen machen keine Anstalten, mutmaßlich illegale Migranten zu kontrollieren. Sie sorgen lediglich für einen reibungsloseren Einstieg, indem sie den Passagieren mitteilen, daß die hinteren Waggons geschlossen bleiben.

„Anordnung der Bundespolizei“, lautet die knappe Antwort des deutschen Schaffners auf die Frage nach dem Grund der Maßnahme. In Freilassing fänden Kontrollen statt. Dann, wenn die Migranten bereits deutschen Boden erreicht haben. Dort angekommen, steigen die Beamten in den Zug. Auch die Schnellzüge halten dort aus diesem Grund außerplanmäßig. Ausweiskontrolle. Keine Stichproben, sondern bei jedem. Ähnlich verlaufen die Kontrollen an der deutsch-schweizerischen Grenze in Basel. 

Der Unterschied: Die deutsche Polizei steigt schon auf dem Baseler Hauptbahnhof und damit auf Schweizer Territorium in den Zug. Und noch etwas ist anders. Die Anzahl der Migranten ist deutlich geringer. Nur vereinzelt streifen deren Kundschafter über die Bahnsteige. Keine Gruppenbildungen in der Bahnhofshalle, weder sind Zuwanderer auszumachen, die Fahrpläne studieren, noch sieht man Organisatoren, die am Mobiltelefon hängen.

„Die meisten wollen von hier aus eher nach Frankreich als nach Deutschland“, bestätigt einer der deutschen Polizisten im Gespräch die Vermutung. Dabei bevorzugen sie auch hier die Regionalzüge. Interessant: Im Gegensatz zu deutschen und österreichischen Fernzügen wird den Migranten der Zutritt in den französischen TGV verwehrt, finden bereits am Gleis Kontrollen statt. Was die Regionalzüge nach Frankreich für Illegale um so attraktiver macht. Besonders die Strecke zwischen Basel und Straßburg werde von ihnen stark genutzt, schildern es Schweizer Bahnbedienstete der JUNGEN FREIHEIT.

Nachlässigere Kontrollen in der Schweiz sind jedenfalls nicht der Antrieb der Zuwanderer, über das Land der Eidgenossen zu reisen. Den Vorteil des Durchwinkens oder eine plötzlich auftretende Passivität der Sicherheitsbehörden haben sie auch schon in Österreich, Ungarn und Serbien erleben können. „Allmählich wird es mit den Flüchtlingen weniger“, meint allerdings einer der Schweizer Bahnmitarbeiter. Die aufkommende Kälte scheint einmal mehr dafür zu sorgen, daß sich die ungeregelte Einwanderung verlangsamt. Zumindest bis zum nächsten Frühling.

Foto: Junge Einwanderer am Bahnhof in Salzburg: Kontrollen erst auf deutscher Seite