© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/22 / 16. Dezember 2022

„Das Vaterland verteidigen“
Interview: Der portugiesische Politiker André Ventura über die europäischen Rechtsparteien
Jörg Kürschner

Herr Ventura, Ihre Partei Chega ist seit ihrer Gründung 2019 zur drittstärksten politischen Kraft in Portugal aufgestiegen. Was ist Ihr Erfolgsrezept?

André Ventura: Bis zur Gründung von Chega im Jahr 2019 gab es im politischen Diskurs niemanden, der sich als rechts bezeichnete und auf die Probleme der Portugiesen reagierte. In diesem Sinne bestand das „Rezept“ von Chega darin, sich einer verwaisten Wählerschaft als rechtsgerichtete Alternative zu präsentieren. Eine Partei, die konservativ in den Sitten, reformorientiert und liberal in der Wirtschaft ist und die vor allem das Vaterland verteidigt. Der Beweis dafür, daß dies eine erfolgreiche „Formel“ ist, ist das Ergebnis der letzten Parlamentswahlen, bei denen die Partei rund 400.000 Stimmen erhielt und derzeit die drittstärkste politische Kraft ist und in den Umfragen steigt.

Bis dahin waren Sie Mitglied der liberalkonservativen PSD von Präsident Marcelo Rebelo de Sousa. Bei der Präsidentschaftswahl 2021 traten Sie gegen den PSD-Mitgründer und Parteivorsitzenden an und erreichten 11,9 Prozent. Was waren die Gründe für den Bruch?

Ventura: Die PSD ist keine reformorientierte Partei mehr, die kompromißlos für die Werte eintritt, die von PSD-Gründer Francisco Sá Carneiro noch hichgehalten wurden. Sie hat ihren Charakter verloren und ist heute eine Partei ohne Identität. Sie ließ Raum für eine rechte Alternative, die in der Lage ist, auf die Herausforderungen, vor denen unser Land steht, zu reagieren.

Chega bedeutet auf deutsch „Jetzt reicht‘s“. Was heißt das genau?

Ventura: Chega bedeutet, mit dem existierenden politischen System zu brechen. Chega heißt, genug von Vetternwirtschaft, Korruption, Subventionsabhängigkeit, ideologischer Indoktrination in Schulen und Universitäten, den Angriffen auf die traditionelle Familie, der Respektlosigkeit gegenüber den Sicherheitskräften, Lehrern und medizinischem Personal, zu haben. Auch die Mißachtung der Probleme der Landbevölkerung ist genug.

Welche Wählerschicht spricht Chega besonders an?

Ventura: Chega wendet sich an ganz normale Portugiesen, die jeden Tag aufstehen, um zu arbeiten, und deren Gehalt nicht bis zum Ende des Monats reicht. Für diejenigen, die sehen, daß die Hälfte ihres Gehalts an den Staat geht und dieser Staat ihnen nicht die Gesundheits- und Bildungsleistungen zurückgibt, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Oder für diejenigen, die am Rande der Großstädte leben und sich in ihren Vierteln oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln, die sie nach Hause bringen, unsicher fühlen. Und auch für diejenigen, die im Landesinneren leben, oder für junge Menschen, die eine Chance in Portugal suchen und das Land verlassen müssen, weil sie keine Arbeit finden.

Die Chega in Portugal ist bislang – anders als die Kommunisten (PCP), die ein Wahlbündnis (CDU) mit den Grünen haben – politisch weitgehend isoliert, so wie zum Beispiel die AfD in Deutschland oder früher die Schwedendemokraten (SD). Warum?

Ventura: Bislang gibt es mehrere Anzeichen dafür, daß die Isolation noch nicht aufgehoben ist. Man denke nur an die wiederholten Mißerfolge von Abgeordneten, die von der Chega für das Amt des Vizepräsidenten der Versammlung der Republik nominiert wurden, oder an die Vorschläge, die im Parlament eingebracht und immer wieder abgelehnt wurden, nur weil sie von der Chega kamen. 

Wie ist die Chega mit anderen europäischen Rechtsparteien vernetzt?

Ventura: Die politische Familie der Chega ist die EU-Parlamentsfraktion Identität und Demokratie (ID), mit der wir die Verteidigung der europäischen Werte und der Identität der Völker teilen, wobei wir enge Beziehungen zum französischen Rassemblement National von Marine Le Pen oder der italienischen Lega von Matteo Salvini haben. Aber wir stehen auch den Parteien nahe, die der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) angehören, mit denen wir oft die gleichen Kämpfe austragen, wie zum Beispiel mit Santiago Abascal‘s Vox aus Spanien.

Im EU-Parlament gibt es dennoch weiter die beiden rechten Fraktionen ID und EKR. Im Juni stand eine „Vereinigung aller patriotischen und konservativen Kräfte“ auf der Tagesordnung. Ein Wunschtraum für Sie?

Ventura: Wir glauben, daß es möglich ist, diese beiden großen europäischen Fraktionen zu vereinen, da es mehr gibt, was sie eint, als was sie trennt, und sie die gleichen grundlegenden Themen verteidigen. Wir werden unsererseits alles tun, um Plattformen der Verständigung zu schaffen, die in der Lage sind, eine konservative und patriotische Politik voranzutreiben.

Welchen Standpunkt vertritt die Chega zur „Nelkenrevolution“ vom 25. April 1974? Gibt es einen „Flügel“, der der rechtskonservativ-autoritären Diktatur unter António de Oliveira Salazar nachtrauert?

Ventura: Der 25. April 1974 war wichtig, um einem überholten Regime ein Ende zu setzen, aber im Gegensatz zu dem, was sie uns glauben machen wollen, verdanken wir letztlich der Niederschlagung der linken Militärrevolte vom 25. November 1975 die demokratische Entwicklung und die Rechtsstaatlichkeit ab 1976.    






André Claro Amaral Ventura, geboren am 15. Januar 1983, hat einen Abschluß in Rechtswissenschaften von der Universidade Nova de Lisboa in Portugal und einen Doktortitel in öffentlichem Recht vom University College Cork in Irland. Er war Assistenzprofessor an der Universidade Autónoma de Lisboa. Ventura spricht fließend Englisch, Spanisch, Arabisch, Französisch und Hebräisch. 2001 trat er in die liberalkonservative Sozialdemokratische Partei (PSD) ein, für die er 2017 zum Stadtrat von Loures im Norden Lissabons gewählt wurde. Dieses Amt legte er im Oktober 2018 nieder, trat aus der PSD aus und gründete am 9. April 2019 Chega. Bei der Präsidentschaftwahl 2021 erreichte Ventura mit 11,9 Prozent den dritten Platz.