© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/22 / 16. Dezember 2022

Kampf gegen die „Feinde Gottes“
Iran: Die Proteste gegen das Mullah-Regime halten an / Drakonische Strafen und dennoch erkennbarer Refomwille?
Marc Zoellner

Für Sahand Nourmohammad-Zadeh könnte jeder Tag sein letzter sein: Am 23. September festgenommen, wurde gegen den 17jährigen seit Mitte November vor einem „Revolutionsgericht“ verhandelt. Sein Vergehen: das Anzünden eines Mülleimers sowie der Wurf eines Gitters auf eine Schnellstraße im Zuge der laufenden Proteste. Das behaupete die iranische Staatsanwaltschaft. Nachgewiesen werden konnte ihm allerdings lediglich mit Fotoaufnahmen, daß er sich auf einem Moped vom Protest entfernt hatte. Trotz alledem fiel vergangenes Wochenende ein drakonisches Urteil: Tod durch Erhängen.

Daß das Mullah-Regime diese Strafe meint, belegten zwei Fälle anderer junger Männer aus dem Iran. Bereits am Tag nach Sahands Verurteilung wurde in der Millionenmetropole Maschhad der 23jährige Madschidresa Rahnaward öffentlich exekutiert. Mit der Hinrichtung des Demonstranten, dem die Ermordung zweier Sicherheitsbeamter angelastet wurde, sendet das Regime ein deutliches Signal an die Opposition des Landes, mit aller verfügbarer Härte gegen deren Proteste vorzugehen.

Vergangenen Donnerstag fiel der Rap-Musiker Mohsen Shekari, ebenfalls erst 23 Jahre alt, dem gleichen Schicksal zum Opfer. Auch sein Vergehen scheint angesichts der zügellosen Gewalt, welche die Protestler von seiten führungstreuer Milizen erfahren, verständlich: Einem Polizisten habe er mit einem Taschenmesser in die Schulter gestochen, so die damalige Anklageschrift. Bei allen dreien spielte überdies der Tatbestand der „Feindseligkeit gegen Gott“ eine gewichtige Rolle in der Verurteilung.

Am Wochenende fanden sich dennoch wieder Tausende iranische Bürger zu Demonstrationen in der Hauptstadt Teheran sowie in den benachbarten Metropolen Karadsch und Babol ein, um die Abdankung des „Obersten Führers“ Ali Chamenei sowie demokratische Neuwahlen für ihr Land einzufordern. Ursprünglicher Auslöser der Proteste war der gewaltsame Tod der 22jährigen Kurdin Mahsa Amini, die ihr Kopftuch nicht korrekt trug und am 16. September kurz nach ihrer Verhaftung durch die iranische Sittenpolizei (Gascht-e Erschad) unter bislang ungeklärten Umständen verstarb.

EU-Außenministerkonferenz beschließt neuen Sanktionskatalog

Daß die Proteste binnen kürzester Zeit von den Kurdengebieten des Nordwestens auf beinahe das gesamte Land übergreifen konnten, liegt ursächlich im System der Islamischen Republik begründet. Von den internationalen Sanktionen genährt, erlebt der Iran seit vier Jahren eine akute Wirtschaftskrise. Die Jugend leidet unter grassierender Arbeitslosigkeit. 

Das Land ist von ausländischer Devisenzufuhr sowie wichtigen Importen nahezu abgeschnitten. Eine politische Reform oder gar eine Öffnung des Iran durch Ali Chamenei erwarteten viele Bürger aus der unteren und der Mittelschicht in der Vergangenheit jedoch vergebens. Das iranische Regime macht die westliche Staatengemeinschaft für die Proteste alleinverantwortlich und erklärt verhaftete Demonstranten zu „ausländischen Agenten“.

Am Montag verabschiedete die EU-Außenministerkonferenz nun einen neuen Sanktionskatalog gegen 20 hochrangige iranische Persönlichkeiten. Die Strafmaßnahmen werden aber nicht nur mit der Hinrichtung der zwei jungen Iraner, sondern ebenfalls mit den iranischen Drohnenlieferungen an Rußland begründet. Als Reaktion verhängte Teheran eine eigene Sanktionsliste – seit Wochenbeginn dürfen mehrere deutsche Politiker, darunter Claudia Roth, Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert und die 85jährige Rita Süssmuth, nicht mehr in den Iran einreisen. Kurioserweise enthält die Sanktionsliste auch die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo sowie ein ehemaliges deutsches Importunternehmen, welches seit zwanzig Jahren nicht mehr im Handelsregister vertreten ist.

Einer unabhängigen Berichterstattung über die fortlaufenden Proteste hatte das iranische Regime bereits vor Wochen mit der Abschaltung der Zugänge zu den weltweiten sozialen Netzwerken für iranische Bürger entgegengewirkt. Vorige Woche veröffentlichte die oppositionelle Gruppierung „Human Rights Activists in Iran“ (HRAI) allerdings eine fast 500seitige Zusammenfassung der bald neunzig Tage andauernden Unruhen. In ihrem Bericht spricht die HRAI von „481 Verstorbenen, einschließlich 68 Kindern und Jugendlichen, geschätzten 18.242 Verhafteten“ sowie von bislang „1.115 dokumentierten Demonstrationen“ seit dem 16. September. Zwölf Inhaftierte seien bislang zum Tode verurteilt worden. Amnesty International warnt, daß die Mehrheit dieser bereits verhängten Todesurteile in den kommenden Wochen vollstreckt werden könnte – und das Teheraner Regime in der Folge noch weitere Todesurteile gegen Demonstranten verkündet.

Foto: Eine junge iranische Frau auf einer Allee in der heiligen Stadt Qom, 145 Kilometer südlich von Teheran: Gerade die Stimmung unter den iranischen Jugendlichen ist explosiv