© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/22 / 16. Dezember 2022

Sind türkische Aktien im internationalen Vergleich immer noch günstig?
Börsenwahn am Bosporus
Thomas Kirchner

Die türkische Börse hat in diesem Jahr eine Hausse von 169 Prozent erlebt, zumindest für Anleger in türkischer Lira. Doch genau da liegt der Haken: die Lira setzte ihren jahrelangen Abwärtstrend fort, so daß für Anleger in Euro oder Dollar nur noch ein Plus von 92 Prozent bleibt. Trotz dieses gerade im Vergleich zu den westlichen Märkten ausgesprochen fetten Jahres bleibt die Türkei langfristig ein Geldgrab mit minus 3,1 Prozent durchschnittlich über die letzten zehn Jahre. Und das trotz der Verdoppelung seit Juli, als der parabolische Preisanstieg begann.

Auf den ersten Blick läuft alles prima: Unternehmensgewinne steigen dank hoher Inflation (84,39 Prozent im November), Verbraucher bekommen kräftige Gehaltserhöhungen. Aber die Börse reflektiert nicht Stärke, sondern ist der Schwanengesang Recep Tayyip Erdoğans ruinöser Wirtschaftspolitik. Denn eigentlich ist das Land pleite. Wladimir Putin rettet die Türkei, indem er die Zahlung der Gaslieferungen stundet, sonst gäbe es eine Zahlungsbilanzkrise. Und genau die steht an, sollte die Opposition bei Neuwahlen gewinnen und Putin auf Zahlung pochen. Dann kommt ein IWF-Rettungspaket mit einschneidenden Reformen, was meist mit einer tiefen Krise und Protesten einhergeht. Das Land schuldet dem IWF noch zehn Milliarden Euro aus dem Jahr 2002. Devisenreserven sind seit der Währungskrise 2018 erschöpft. Rechnet man Derivate mit anderen Zentralbanken ein, sind die Reserven negativ.

Auch die Rekordgewinne der Unternehmen sind zu Inflationszeiten nicht ernst zu nehmen. Denn die in der Türkei wie in Deutschland gültigen IFRS-Bilanzierungsregeln verwenden eine Bewertungsmethode für das Inventar, die in einem Inflationsumfeld zu hohe Gewinne ausweist. Im Extremfall erlaubt das FIFO-Verfahren („first in, first out“) Firmen mit wertlosem Inventar, bei Verlusten trotzdem hohe Gewinne zu bilanzieren. Auch Bilanzmanipulationen sind so möglich. Inwieweit skrupellose Manager diese Möglichkeiten ausnutzen, wird sich erst in ein paar Jahren zeigen.

Die Hausse der türkischen Börse hat eine banalere Ursache: Anleger haben alle anderen Anlagemöglichkeiten bereits ausgereizt, um sich vor Inflation zu schützen. Kryptowährungen haben ihnen hohe Verluste beschert. Immobilien sind noch unerschwinglicher geworden als zuvor, außerdem kaufen Russen und Ukrainer den Markt leer. Bei Gold und Devisen besteht die Gefahr von Konfiszierung, nachdem Erdoğan die Bürger schon mehrfach aufgefordert hat, diese freiwillig in Lira umzutauschen. Die Menschen investieren daher mangels anderer Alternativen in Aktien. Seit den Anfängen im Sommer hat sich eine Spekulationsblase gebildet. Die Zahl der Depots stieg in diesem Jahr um 32 Prozent. Wie bei der GameStop-Manie sind es wieder Kleinanleger, die den Markt treiben und sich in sozialen Medien gegenseitig ermutigen. Und wieder sind es kleine, obskure Titel, die astronomische Kurssprünge von bis zu 1.400 Prozent in wenigen Wochen hinlegen.

Die halbstaatlichen Turkish Airlines konnten 520 Prozent zulegen, weil die Fluggesellschaft Einnahmen in harten Devisen erwirtschaftet. Ausländische Anleger haben sich aus der Türkei zurückgezogen. Ihnen gehören nur noch 29 Prozent des Markts, ein Tiefststand der letzten zehn Jahre. Die Aktien erscheinen im internationalen Vergleich immer noch günstig. Doch angesichts des hohen Währungsrisikos sollten Anleger diesen Markt vorerst vermeiden, denn auch was billig ist, kann noch billiger werden.